Kinder, nehmt euch ein Kissen und macht’s euch bequem, die Mutti erzählt euch eine Geschichte!
Als ich klein war, musste mir ständig jemand „was von früher“ erzählen. Ich konnte nie genug von diesen Erzählungen bekommen! „Oma, wie habt ihr euch noch mal kennengelernt?“ Und ich fand es wundervoll, wenn Oma dann das dicke Fotoalbum mit den porösen schwarzen Pappseiten rausholte, in dem fein säuberlich die sepiafarbenen und schwarzweißen Fotos eingeklebt waren. Ordentlich standen sie da in Reih und Glied, mit sauberen Schuhen und gestärkter Schürze, die Protagonisten meiner so geliebten Geschichten. Kleine Jungen mit Schiebermütze und Kniestrümpfen unter kurzen Lederhosen, freundlich guckende ältere Leute, aufgereiht zum Fototermin anlässlich einer Kirmes oder Hochzeit. Ich habe mich immer gefragt, was haben sie wohl gedacht, als das Foto entstand? Wie war ihr Tag bis dahin verlaufen, hatten sie Sorgen, weil der Sohn im Krieg war und die Feldpost auf sich warten ließ, die Lieblingskuh kurz vorm Kalben stand?!
Noch heute faszinieren mich alte Fotos und ich ersinne Geschichten, wenn ich sie sehe. Selbst alte Fotografien von völlig Fremden üben einen Reiz auf mich aus, dem ich mich nicht entziehen kann.
Leider sind Fotos heute nicht mehr wertvoll, sie werden gelöscht, zerrissen (da war der mit Ex drauf, dort sieht man meine Reiterhosen…). Verwandte und Nachbarn der Verwandten und Bilder eine Kirmes in Fotoalben zu kleben? Heute? Nahezu undenkbar.
In Zeiten der Möglichkeit der vielfältigsten Bildbearbeitung besinne ich mich oft an diese alten Alben meiner Großeltern. Ja, und auch an die Geschichten, die unweigerlich damit verknüpft sind. Und ich möchte sie aufschreiben. Für euch, meine Jungs!
Martha & Richard
Eure Ur-Urgroßmutter Martha wurde vor über hundert Jahren geboren und lebte in einem Dorf in Schlesien. Wie sie den Ur-Uropa kennenlernte? Also es gibt die Geschichte, dass die Martha als junges Ding auf den Tanz ging und dann mit einem feschen Burschen im Heu landete. Einige Wochen später fiel der Mutter von der Martha (Ja, Kinder, noch ein Ur mehr…) auf, dass das Heu wohl seine Spuren hinterlassen hatte… und sie begaben sich auf die Suche nach dem Verursacher! Blöde war bloß, dass der aus einem anderen Dorf kam und so richtig namentlich auch der Martha nicht bekannt! Nun gut, die Ur-Ur-Uroma war wohl eine Frau der Tat und so nahm sie die Martha und klapperte die Nachbarsdörfer ab nach dem Schwerenöter. Er wurde auch dingfest gemacht, und wie damals so üblich, wurde kurzer Prozess gemacht und die beiden verheiratet. Ach, halt! Wie sich herausstellte, war der jugendliche Casanova noch nicht mal volljährig. Aber auch dafür gab´s im Schlesien des vorigen Jahrhunderts eine pragmatische Lösung: die Papiere vom Richard wurden kurzerhand gefälscht, er mit der Martha verheiratet und eure Uroma Else kam in geordneten Verhältnissen zur Welt.
Martha und Richard hatten zwei Kinder und waren bis zu ihrem Tod glücklich verheiratet. Und ja, Ur-Uropa Richard lebte den Rest seines Lebens mit einem gefälschten Ausweis.
Else & Gerhard
Eure Uroma Else wuchs in dem schlesischen Dorf auf, was ihr nun schon kennt. Sie lebte mit der Ur-Uroma, dem Ur-Uropa, einem Hund, einer Ziege und ich glaube auch ein paar Hühnern im Haus der Ur-Ur-Uroma. Sie hat diese sehr geliebt! In unserer Familie spielten die Großmütter immer schon eine tragende Rolle, und diese erste mir bekannte Großmutter hat, wie alle weiteren Großmütter in unserer Familie nach ihr, ihre Enkeltochter sehr liebevoll erzogen und behütet.
Die Else wurde groß und verliebte sich. Nein, das war noch nicht der Uropa. Es kam der zweite Weltkrieg und der Auserwählte der Uroma schenkte ihr ein Halstüchlein zum Abschied und versprach zu schreiben und zurückzukommen. Er wurde nie wieder gesehen. Das Halstuch und das einzige Foto des schmerzlich Vermissten hat später euer Uropa vor Eifersucht rasend verbrannt (der hatte ein südländisches Temperament, aber dazu später mehr). Die Uroma war jedenfalls in Trauer. Da kam die Ilse, Uromas Freundin und erzählte ihr entflammt, dass sie einen schmucken Wehrmachtsoffizier namens Gerhard kennengelernt hatte, der in Schlesien stationiert war. Sie wollte ihn der Else unbedingt vorstellen. So ein Bild von einem Kerl! Schwarzes Haar, lodernde Augen, Else, den musst du gesehen haben! Ilse war hin und weg, wollte aber nicht alleine zu dem Fest hingehen, auf dem sie diesen Gerhard wiederzusehen hoffte. Else war nicht nach feiern, aber der Ilse zuliebe ging sie mit hin.
Zur selben Zeit verlor der Gerhard eine Wette gegen einen Kollegen, weshalb er ebenfalls auf genanntes Fest ging. Denn, er wollte partout nicht! Wie er erzählte, wurde er von einer Ilse buchstäblich verfolgt, die ihn jungmädchenhaft anschmachtete, ihn aber überhaupt nicht reizte (also, so wurde später erzählt!).
Der Rest ist Geschichte, nämlich die unserer Familie. Die Else bekam der Gerhard, die Ilse blieb bis zu ihrem Tode ihrer beide Freundin und unverheiratet! Noch als beide schon graue Omis waren, meinte die Uroma, die Ilse wäre halt nur einmal verliebt in ihrem Leben gewesen…
Gerhard stammt aus Dresden. Die Familie hatte eine große Gärtnerei, die aber dem Suff, dem Wahnsinn des Ur-Uropas, der Inflation oder den spanischen Genen zum Opfer fiel. Nach dem dritten Kirschlikör wurde bei euren Urgroßeltern gern mal erzählt, ein spanischer Seemann hätte sich irgendwann in dem Stammbaum von Gerhards Familie verewigt. Und in der Tat kommen aus der Linie von Uropa Gerhard auffallend viele schöne, südländisch anmutende Menschen mit Glutaugen und einem „Caramba Olé, wo ich bin ist vorne!“-Temperament. Gerhard hatte eine Schwester, soviel ich weiß, und auch einen Bruder. Aber aufgrund des überbordenden Temperaments der gesamten Familie und der Tatsache, dass De-Eskalationsmanagement noch nicht erfunden war, waren bald alle untereinander verstritten und keiner sprach mit irgendwem mehr ein Wort. Diese traurige Tradition hat leider auch nachkommende Generationen ereilt. Die spanischen Gene! Was willste da machen…!
Else machte sich in den letzten Kriegstagen mit einem Flüchtlingstreck von Schlesien auf nach Dresden zu Gerhard und dessen Familie. Sie bekamen vier Kinder (das zweite war euer Opa) und lernten dort mehr oder weniger notgedrungen irgendwann auch Charlotte und Herbert kennen. Und das war was! Der eine ein „brauner Hund!“, der andere eine „rote Socke!“, kriegten sich die Männer bei jeder Gelegenheit in die Haare, sodass eure Großeltern irgendwann die Feiertage aufteilen mussten: an einem kamen Else und Gerhard, an einem anderen Charlotte und Herbert. Aber immer der Reihe nach!
Charlotte & Herbert
Eure Uroma Charlotte Josephine hatte außer einem wunderschönen Namen noch feuerrotes Haar, war „so breed wie hoch“ und die älteste von sieben Töchtern einer Dresdner Familie. Ihr Vater fiel im ersten Weltkrieg und so heiratete Ur-Uroma Margarete erneut. Dem neuen Mann im Haus war Charlotte ein Dorn im Auge, wurde er doch durch den feuerroten Schopf eurer Urgroßmutter immer daran erinnert, dass vor ihm bereits ein anderer Mann bei Margarete war. „Der Rotschopf isst nicht mit an meinem Tisch!“ ist ein überlieferter Ausspruch von ihm. Charlotte wurde darauf hin nach Oschatz zu ihrer Großmutter geschickt, bei der sie aufwuchs. Eure Uroma war gebildet und hatte viele Talente, sie schrieb Tagebuch auf Französisch, weil das außer ihr niemand lesen konnte. Und sie war künstlerisch unglaublich begabt. Sie hat wundervoll gemalt und riesige Gobelins bestickt, ohne Anleitung, oder die hat sie vorher selber gezeichnet. Sie war eine Dame durch und durch. Niemals wäre sie in einer Schürze aus dem Haus gegangen, obwohl das bis in die Achtzigerjahre eine vollkommen legitime Frauenbekleidung in der DDR war! Egal, wie hart die Zeiten waren (und die waren später hart für sie), sie trug Seidenblusen mit Kamee-Brosche. Sie wusch sich niemals die Haare selber, einmal in der Woche lies sie sich vom Friseur ondulieren und später, als sie ihr ausfielen, trug sie ein Seidenkopftuch (aber nicht wie eine Omi unterm Kinn verknotet, sondern wie ein Hollywoodstar der Zwanziger!) und einen Hauch von „Tosca“ am Hals. Was muss, das muss!
Es waren die späten Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts und jedes Mädchen musste „in Stellung“ gehen zu der Zeit. Charlotte ging von Oschatz nach Dresden und arbeitete in einem Handarbeitsgeschäft auf dem Altmarkt.
Am Wochenende ging sie in den „Schillergarten“, weil da Musik aufgespielt wurde und man konnte beim „Dässchen Heeßen“ den Schiffen auf der Elbe zuschauen.
Herbert und Herta sind auch im „Schillergarten an einem Wochenende.
Uropa Herbert kam aus einer Dresdner Arbeiterfamilie. Herberts Mutter arbeitete als Köchin in einer Fabrik und hatte somit eine richtige Anstellung, was eine echte Seltenheit im Deutschland der Zwanziger und Dreißiger Jahre war. Herta, Herberts Schwester, hat sich später das Leben genommen. Man sagt, wegen einer unglücklichen Liebe zu einem verheirateten Mann. Herbert hat sie sehr geliebt.
Herta bedrängt den Herbert: „Herbert, geh mal rüber zu der kleinen Rothaarigen und fordere die zum Tanzen auf! Die hat eine tolle Bluse an, ich muss wissen, ob die mit Kreuzstich oder Plattstich bestickt wurde! Und ob das Muster von Burda ist! Herbert! Geh da jetzt hin!“. Und Herbert geht artig und tanzt mit der kleinen Frau, die ihm nicht mal bis zur Brust reicht. Und stellt sie der Herta vor, und diese kann ENDLICH ihre drängenden Fragen bezüglich der Bluse stellen! Man findet sich sympathisch und verabredet sich für einen Nachmittag im Freibad „Wostra“. Charlotte bietet sich an, Kartoffelsalat zu machen. Herta will Kuchen mitbringen… und Herbert.
Am verabredeten Tag sitzt sie im Freibad und wer nicht kommt, ist Herbert. Voller Enttäuschung (und wahrscheinlich auch voller Kartoffelsalat, denn sie aß für ihr Leben gern), macht sie sich auf den Heimweg und da sieht sie Herbert und Herta! „Wo warst du denn?! Wir warten seit Stunden!“. Und siehe da, sie hatten sich nur verfehlt. Na, so haben sie sich doch gefunden am Ende.
Charlotte und Herbert waren bis zu ihrem Tod sehr glücklich verheiratet und hatten zwei Kinder (eins davon ist eure Oma).
Die Oma sagt immer, die Uroma Charlotte sei eine kühle Frau gewesen, ich habe ganz andere Erinnerungen.
Charlotte hat alle meine Puppen eingestrickt und eingehäkelt und mich auch. Solange ich denken kann, bin ich in meiner Kindheit als Ganzkörperhandarbeit herumgelaufen. Und ich trug nicht nur handgestrickte Pullover, nein, sie wurden auch extra mit aufwendigen Stickereien versehen! Keinen Wunsch konnte sie mir abschlagen. Ich durfte ihre Alpenveilchenbank als Puppenküche missbrauchen, auf einem Hocker stehend neben dem Herd ihren Kochkünsten huldigen und mit dem Finger alles naschen, was ich wollte. Uropa Herbert war eine Seele von Mensch, der vor lauter Liebe zu uns allen ganz nah am Wasser gebaut war, krumpelige Laubsägearbeiten für mich machte und mit dem steifen Bein, das er vom Krieg mitgebracht hatte, hinter mir auf dem heißgeliebten Rummel herhumpelte, auf den er mich immer von dem bisschen Rente was die beiden hatten einlud, sobald die Karussells aufgebaut wurden. Einige der Schwestern der Uroma Charlotte lebten im Westen und versorgten die Verarmte mit dem „Nötigsten“. Es gab immer Pril und Tosca und amerikanische Zigaretten, von denen Uropa Herbert später stets die Hälfte abzählte und in einem Zigarrenetui für mich reservierte. Einmal, als Charlotte und Herbert von einem Besuch im Westen zurückkehrten, erzählte Charlotte, dass die Nachbarn der West-Schwestern die komplette Garage mit Klamotten und Zeug zugestellt hatten für die Ost-Schwestern und deren Familien. Sie meinte, sie hat vor Scham nicht ein Teil anrühren können. Ich bin gerast vor Entrüstung!!! Man stelle sich vor, ich wäre in den frühen Achtzigerjahren in den Besitz einer echten Levis gekommen! Oder Wrangler! Oder eines Samtpullovers!!!! Oma, wie kannst du nur!!! Ich werde nie den Blick vergessen, den Uroma Charlotte mir zugeworfen hat und wie sie zu mir sagte: „Kind, irgendwann wirst du das verstehen.“. Sie hat Recht behalten.
Sie war eine Dame durch und durch. Wenn ich mir die wenigen kostbaren Fotos ansehe von den beiden, habe ich den Eindruck, sie entstammen einer völlig anderen Zeit: Uroma Charlotte mit ihrer nonchalanten Ausstrahlung und ihren Seidenblusen, Müffchen, neben Uropa Herbert im Anzug mit Hut, Weste und der goldenen Uhrenkette.
Uroma Charlotte war eine echte Dame. Und doch: die größte Freude konnte man ihr machen, wenn man genussvoll stöhnend den Teller abgeleckt hat nach dem Essen und sie wusste einen herzhaften Furz durchaus zu schätzen! Sie konnte hemmungslos einen fahren lassen und selbstbewusst mit den Worten kommentieren: „Ah, das tat gut!“
Uropa Herbert ist gestorben, als ich siebzehn Jahre alt war. Charlotte hat sich auf ihre Couch gelegt und sich dort nicht mehr wegbewegt. Sie ist an meinem achtzehnten Geburtstag gestorben.
Ich vermisse sie sehr!
Uroma Charlotte schwärmte mir immer von der Torte in der Konditorei „Kreuzkamm“ am Altmarkt vor. Da ging sie als junge Frau einmal pro Woche schmausen. Als die Mauer fiel und beide schon lange tot waren, bezog die Konditorei „Kreuzkamm“ wieder Quartier am Dresdener Altmarkt. Ich war einmal dort, für Charlotte, und habe schluchzend die Torte auf meinem Teller vollgeheult.
Meine Kindheit ist geprägt durch die Erlebnisse mit meinen Großeltern. Ich war als kleines Kind in keiner Kita. Wenn meine Mutter zur Arbeit ging, holte mich morgens eine meiner Großmütter ab und nahm mich mit zu sich. Genau, die fuhren dann vorher mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt dafür. Oder ich blieb gleich länger dort! Bei Oma Else gab es immer ein eingerichtetes Kinderzimmer. Bei Oma Charlotte schlief ich in der Besucherritze, und wenn ich mich trotz dreier Daunendecken divenhaft über die Arschkälte im großelterlichen Schlafzimmer beschwerte, sagte sie stets: „Mach einen Pups, dann wird’s gleich wärmer unter der Decke!“.
Als Kind rief meine Mutter stets besorgt: „Kind, pass auf deine Figur auf! Du kommst nach Oma Charlotte!“. Heute sag ich stolz: Na, das wäre doch schön!
Und nun seh ich euch an. Du, mein Großer, hast die wundervollen Reh-Augen von Uropa Herbert und ja, auch das „Caramba Olé!“-Temperament von Uropa Gerhard! Und du, mein Baby, du kommst wirklich nach Charlotte mit dem rötlich schimmernden Haar und den wasserblauen Augen aller Rothaarigen. Und du bist „so breed wie hoch“, genau wie Charlotte. Nur, was das angeht, da hoffe ich, du entwächst deinen Genen noch. Aber lass dir Zeit!
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …