Die zweiten zwölf Jahre

Ach, ich wäre manchmal gern die Mutter von Dieter.

Ihr erinnert euch?

„… Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto!“

Dieter ist sparsam und haut nicht gefühlt zweihundert Euro in zwei Wochen auf den Kopp – für Döner! Dieter weiß mit Sicherheit, dass im Dezember Weihnachten ist und seine Eltern auch irgendwann Geburtstag haben und es gesellschaftlich verbrieft ist, dass man (meint: auch Jugendliche mit Zugang zu Taschengeld, für dessen freizügige Überlassung die armen gebeutelten Eltern im Steinbruch schuften; oder in irgendwelchen IT-Buden) da ein Präsent überreicht. Eine einzelne Rose von mir aus für drei Euro, irgendwas! Aber das Geld ist ja immer alle. Außer bei Dieter.

„Junge!“

Was haben wir gelacht, wir alle, als die Ärzte 2007 diesen Song raus brachten. Was für ein Spaß! 2007 war ich Einkindmutter und das süße Frätzelchen wurde gerade eingeschult. Meine eigene Pubertät lag noch nicht so lange zurück, als dass ich mich erinnerte, dass meine Eltern einfach doof waren. Mit meinem Vater hatte ich überhaupt keine Gesprächsbasis und meine Mutter flehte mich nur immer an, ich möge doch bitte nicht so verlottert in der Gegend rumlaufen! Die Nachbarn! Das Gerede!

„… Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose, und ständig dieser Lärm (Was sollen die Nachbarn sagen?). Und dann noch deine Haare, da fehlen mir die Worte! Musst du die denn färben?“

Und so zog ich abends los mit einem Beutel. Irgendwo um die Ecke vom Neubaublock meiner elterlichen Behausung versteckte ich mich in einem Keller und zog mich um: schwarze sackartige Klamotten, aus gefärbtem Bettleinen selbstgenäht, dicker schwarzer Kajal um Augen und Mund und dann die Kernseife. Kurz anspucken und die Hände dick einseifen. Mit diesen Händen wurde dann das halblange Haar nach oben toupiert. So verkleidet ging ich dann los.

„… Nie kommst du nach Hause, wir wissen nicht mehr weiter… Junge, brich deiner Mutter nicht das Herz.“

Und nun bin ich in der gleichen Rolle wie meine Mutter vor dreißig Jahren und mache mir dieselben Sorgen! Angst vor Drogen und frühen Schwangerschaften. Angst vor Gewalterfahrung, Zukunftsängste.

„… Wo soll das alles enden? Wir machen uns doch Sorgen… Und du warst so ein süßes Kind, und du warst so ein süßes Kind. Du warst so süß…“

Ich glaube, Kontrollverlust ist das Thema, das diese Zeit aus der Gefühlswelt von uns Eltern am ehesten zusammenfasst. Über all den Gefühlen, die uns befallen, wie ein Regenschirm spannt. Die Kinder nabeln sich manchmal grausam plötzlich und rigoros ab und oft sind ihre Versuche, sich allein in der Welt zurechtzufinden für uns Alten entsetzlich naiv, gefährlich, dumm und überhaupt nicht erwachsen.
Und dann stehst du irgendwann da und sagst diesen Satz, diesen furchtbar bescheuerten Satz, den schon Generationen von Eltern vor dir sagten:

„Was haben wir nur falsch gemacht?!“

Und die Antwort ist ganz simple: Gar nichts! Das Kind hat Pubertät und da musst du nun durch. Das habt ihr alle, als Familie quasi. Und was nun? Wer tröstet dich, wer nimmt dir die Angst, die Ängste? Bücher vielleicht? Ja, das kannst du probieren. Ich habe die alle in die Ecke gepfeffert, gebe ich zu. Ich habe mich niemals verstanden, gestützt und unterstützt gefühlt nach dem Lesen eines Ratgeberbuches! Denn noch immer bin ich der Meinung: Ratschläge sind auch Schläge, ganz besonders in Erziehungsfragen und diese Bücher benutze ich allenfalls zum Stabilisieren eines kippelnden Tisches. So. Wobei ich die Autoren in Schutz nehmen muss, sie sind diesbezüglich natürlich in der ihnen vorgedachten Rolle! Ein Experte schreibt entsprechend seiner Expertise ein Buch, das in verständlichen Worten wiedergibt, woran er jahrelang geforscht und evaluiert hat und was die Grundpfeiler seiner Expertenschaft ausmacht. Nur: Mir half in der Vergangenheit nichts von alledem. Mein Sohn passte in keines der skizzierten Schemen und nirgendwo in den schlauen Büchern fand ich Trost und Hilfe.

Also habe ich mich gefragt: Was könnte denn trösten? Was könnte wirklich helfen? Nun, mich tröstet es zu wissen, ich bin nicht allein! Die Gewissheit, dass nichts, von dem, was ich an Problemen durchmache, exklusiv ist und „noch niemals dagewesen“, das tröstet mich. Mich tröstet die Ehrlichkeit einer anderen Mutter, die sich offenbart, dass sie mit (den gleichen oder ganz anderen) Problemen rund um die Pubertät an ihre Grenzen gelangt. Und Schreiben hilft mir. Das ist (für mich zumindest) eine gute Möglichkeit, sich mit Dingen zu beschäftigen und gleichzeitig Abstand zu bekommen. Wenn die Sätze geordnet über die Tastatur gegangen sind, ist vieles danach auch am Entstehungsort der Sorgen sortiert.

Blogger schreiben Blogs. Elternblogger schreiben über ihre Kinder, über ihr Leben als Eltern.

Ist euch mal aufgefallen, dass in epischer Breite alle Gefühle, Begebenheiten und das Drum und Dran der ersten – sagen wir mal – zehn Jahre der Kinder beschrieben wird?! Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit, Kindergartenzeit, Schuleinführung. Dann werden die Berichter schmaler, die Fotos seltener. Gibt es etwas nichts mehr zu berichten von den Kindern? Läuft alles wie am sprichwörtlichen Schnürchen?

Mitnichten!

Die Stille, in die sich „die zweiten zwölf Jahre“ hüllen ist allerdings mehr als verständlich. Denn – spätestens dann – wird uns klar, das Kind hat eine eigene Persönlichkeit, die es vor öffentlichem Zugriff oder Anteilhabe zu schützen gilt (eigentlich auch schon von Geburt an, aber das klammern wir ja gern aus. Auch ich). Die Kinder haben ab einem gewissen Alter oft auch eine eigene Netzpräsenz in diesem Internet und wollen verständlicherweise nichts über sich lesen! Schon gar nicht Problematisches!

Okay, auf der einen Seite gibt es also Eltern, die verunsichert oder wütend sind und ihre Kinder nicht mehr verstehen und auf der anderen Seite Bücher von Experten, geschrieben für die große Allgemeinheit. Und dazwischen gibt es nichts. Außer Selbsthilfeforen vielleicht noch.

Wie wäre es, wenn es einen Beichtblog gäbe, einen Mitmachblog, eine Plattform, wo jeder Mensch, der sich von dem Thema angesprochen fühlt, anonym mit anonymisierten Kindernamen seine Geschichte erzählen kann. Ob Blogger oder Leser, Mutter oder Vater, Pflegevater oder Stiefmutter, ganz egal. Zwei Effekte verspreche ich mir: Zum Einen ist es durchaus denkbar, dass durch das „Aufschreiben“ für den- oder diejenige schon ein wenig der Druck „des Problems“ abfällt. Durch ermutigende Kommentare der Leser(innen) könnte eine Gemeinschaftsgefühl entstehen und möglicherweise gibt es aus den Kommentaren auch praktische Hinweise aus ähnlich erlebten Situationen. Menschen, die „nur“ lesen sollen sich verstanden fühlen in ihrer Unsicherheit in diesen Zeiten.

Das ist der Gedanke dahinter. Ob es klappt? Wir werden sehen. Wir werden sehen, ob es Eltern gibt, die von sich erzählen wollen. Ich werde (auch mit Pseudonym) etwas über unsere Probleme schreiben, aber hauptsächlich biete ich einfach nur die Plattform. Dieser neue Blog ist nicht „mein Blog“!

Ich suchte schon vor vielen Jahren nach einer Möglichkeit, mich zu Pubertätsproblemen auszutauschen. Mein ältester Sohn ist achtzehn, die Kinder der meisten Elternblogger deutlich jünger. Natürlich war ich aus diesem Grund an diesem Thema näher dran! Oder eher als andere Eltern nah dran! Denn dass wir alle irgendwann an diesem Punkt stehen und nicht mehr wissen, wie wir mit bestimmten Situationen umgehen sollen, ist sonnenklar und vorbestimmt. Von der ersten Geburtswehe an!

Ich sprach schon vor vielen Jahren mit Anna über die Möglichkeiten, das in einem Blog abzubilden. Vor kurzem dann stieß Susanne dann das Thema mit einem Blogbeitrag und einer Diskussion bei Facebook an. Nina und Séverine bekräftigten, dass diese Idee zumindest mal versucht werden sollte, und here we go.

Wir versuchen das einfach mal.

Achtzehn

Der Kronsohn, unser Erstlingswerk, wird in drei Wochen achtzehn. Also ist er dann sowas wie erwachsen, auf dem Papier zumindest.

Ich meine, es war klar, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Genauso, wie immer klar war, someday baby, we´ll be old, oh baby. Und trotzdem guck ich in den Spiegel und denke, ach du Scheiße, wann ist das passiert? Warum? Und: Jetzt schon? So ist das auch mit dem Bubi.

Wie, der ist jetzt erwachsen?!

Komisch.

Wir Alten fragen uns zum Beispiel aktuell, wie wir ihm das seit seiner Geburt angesparte Geld auf dem Sparbuch nun schenken sollen. Ein Diskussionsgegenstand, der regelrecht skurril erscheint, haben wir doch ganze achtzehn Jahre jeden Monat auf das Kinderkonto überwiesen, für später. Nun ist es da, dieses „später“. Was heißt das, wie geht man jetzt damit um? Niemand hat uns vorgewarnt, wie verhält man sich denn entsprechend? Anders? So wie vorher? Was ist mit Rechten? Pflichten? Dürfen wir überhaupt noch Vorschriften machen? In seine Angelegenheiten reinreden, weil wir alt und weise sind und sowieso alles besser wissen?

Niemand bereitet einen darauf vor.

Ich habe noch den Duft seines verschwitzten Kinderkopfes (nach warmem Apfelkuchen) in meiner Nase und wie er eine „Fitzschnute“ zog als Baby, wenn ihm etwas nicht passte. Nichts davon erinnert beim Anblick des langbeinigen Kerls mit den (aktuell) blauen Haaren und der tiefen Bassstimme an dieses kleine Kind.

Wir haben noch Glück. Meine Freundin muss sich im Sommer von ihrem Sohn verabschieden, da dieser (obwohl eine Woche jünger als unser eigener) für ein Jahr nach Amerika geht. Unser Sohn zieht nur von der ersten Etage in den Keller in seine neue „Souterrain-Wohnung“. Also lediglich ein Abschied vom Kinderzimmer.

Wir Eltern gehen unterschiedlich mit der Gesamtsituation um. Während ein Elternteil gefühlsduselig die neue Bleibe hübsch machen möchte (Lichterketten, Schwarzlichlampe, Poster), schnauzt das andere Elternteil, das sei völlig übertrieben und dem Sohn gefalle das gar nicht. Und: Immer musst du was einkaufen! Kaufen, kaufen, kaufen! Da wo unser Geld herkommt, gibts ja unbegrenzt Nachschub, nicht wahr? Und wenn es dann nach drei Wochen nicht mehr gefällt, fliegt es einfach auf den Müll! Nein, sage ich. Also das andere Elternteil.

Ich bin ja mal gespannt, wie das Zeugnis aussieht dieses Jahr, sagt das eine Elternteil. Was soll schon sein, das andere. Zwei Komma fünf im Durchschnitt wird es, hat er mir gesagt. Was?! Zwei Komma fünf?! Dann brennt die Luft. Der ist so stinkenfaul, immer nur zocken hat der im Kopf! Nichts hat er gemacht für die Schule in diesem Jahr! Ja, aber sieh es doch mal anders, sagt das andere Elternteil, er hat also mit Null Lerneinsatz die elfte mit zwei Komma fünf geschafft! Da ist jede Menge Luft nach oben! Ganz genau, sagt das der andere. Jede Menge Luft. Er nutzt seine Potentiale nicht, er hat null Biss! Dieses strunzfaule Rumgedahle, lalala, scheiß doch drauf, wird schon irgendwie, das kotzt mich sowas von an, sagt das eine Elternteil aufgebracht. Mann, du redest uns hier echt Probleme herzu, wo überhaupt keine sind, interveniert das andere Elternteil beim Kisten von oben nach unten tragen. Du meckerst immer nur an dem rum! Der steht jeden Morgen auf und geht in die Schule mit gutem Ergebnis, er säuft nicht, nimmt keine Drogen und wenn er auch nur fünf Minuten später nach Hause kommt als vereinbart, schreibt er mir ne SMS! Ich weiß nicht, was du immer willst von dem?!

Ich will, dass der mal ein ordentlicher Kerl wird! Mir wäre lieber, er würde sich mal besoffen prügeln und die Nächte um die Ohren hauen! Ach so, jetzt verstehe ich, sagt das andere Elternteil. DAS ist es also. Weil er „anders“ ist und anders als du sowieso schon mal. Ja, genau, das ist es! Der ist kein bisschen wie ich! Wie soll ich mich da identifizieren? Weißt du, wie gemein du bist, sagt das eine Elternteil, der joggt mit dir, er stemmt Hanteln, er blickt noch immer zu dir auf, alles nur, um dir nachzueifern und du merkst es nicht mal. Und außerdem, ich will ehrlich gesagt nicht, dass der so wird wie du warst! Den Eltern den Mercedes geklaut und ohne Führerschein besoffen zur Disco über die Dörfer gebrettert! Gekifft, geprügelt! Ach, komm, das gehört doch zum Erwachsenwerden dazu, beschönigt das so angeprangerte Elternteil, und ehrlich gesagt würde mir genau das gefallen! Mir aber nicht, widerspricht das andere Elternteil.

Du würdest ihn ja am liebsten noch an die Zitze legen, höhnt der eine, das war schon immer das Problem! Du hast ihn von Anfang an zu sehr verhätschelt! Und du hast von Anfang an ein völlig übersteigertes Anspruchsdenken an den Jungen gehabt! Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist. Warum kannst du den Jungen nicht einfach so annehmen, wie der ist. Weil der kein bisschen wie ich ist!, sagt das andere Elternteil. Weil der sein Leben einfach verdaddelt! Weil der keine Ziele hat! Ach, hör doch auf, nölt das andere. Du hattest mit achtzehn nur das Ziel, ne geile Zeit zu haben! Du warst nicht auf der Penne, du warst auf der Baustelle. Penne und Ziele, das kam alles später, du hast es nur vergessen. Niemand von uns hat auf dem geraden Weg sein Abi gemacht und studiert, bei dem Jungen aber sieht es so aus, als würde genau das passieren. Du aber maulst, er wäre faul und nicht fokussiert.

Mit zwei Komma fünf studiert der gar nichts! Ich sage dir was, wenn der in der zwölften noch zwei Komma fünf hat und ich den nicht mal ne halbe Stunde am Tag pauken sehe, nehme ich den von der Schule! Ja, da guckste! Ich zahle doch nicht das Scheiß Schulgeld für den, wenn der sich nicht mal am Riemen reißt und mir zeigt, dass er das wirklich will!

Du solltest dich hier mal reden hören, sagt das andere Elternteil. Dann sagt sie nichts mehr.

Sie würde ihn gern in den Arm nehmen und ihm sagen, dass er alles, alles richtig gemacht hat, in all den Jahren. Dass er ein toller Vater war und ist. Dass alles gut wird und dieser junge Mann, sein Sohn, seinen Weg gehen wird. Dass sie beide erleben werden, wie er Sonntags mit ihren Enkeln zum Essen kommt. Dass sie beide Gespräche führen werden, erwachsene Gespräche auf Augenhöhe, er und sein Sohn. Dass sie es sehen kann! Sie möchte ihm so gern sagen, dass sie froh ist, dass er in all den Jahren ihr Partner war. In den sorgenvollen Zeiten, in denen sie auf das Kind herabgesehen haben, hielten beide es an der Hand, der eine an der linken, der andere an der rechten. Wie froh sie über diesen Umstand ist. Und dass er stets wissend genickt hat, wenn ihr das Herz weh tat um diesen Jungen. Dass es okay ist, wie es ist. Dass er nachlassen kann, darf. Das möchte sie ihm gerne sagen.

Und während sie darüber nachdenkt und diese Zeilen schreibt, kommt das Blondchen in seinem Superman-Schlafanzug aus seinem Zimmer, legt den Kopf auf ihren Schoß und sagt, er wölle niemals fünf werden! Er wolle für immer klein bleiben und sie denkt: Ach, mein Herz. Es ist, als sei es vorgestern gewesen, als ein Kind mit dunklen Haaren genau dasselbe gesagt hat, mit dem Kopf in ihrem Schoß.

 

 

 

Schatz, danke, dass du mich gefunden hast, damals. Und danke für diese Kinder! Das ist, was sie dir sagen will. ❤

 

 

 

 

Die Glücksbürste

Ich fahre mit den Nachkommen zur samstäglichen Lebensmitelbeschaffungsquelle. Von hinten singt das Kleinste glücklich mit seiner Tweety-Stimme:

„Hip, Schulter, niesenos, niesenos. Hip, Schulter, niesenos, niesenos. Aishe isst Bananentoast. Hip, Schulter, niesenos, niesenos!“

Der Großsohn schreibt gerade seine Prüfungen und die Vorprüfungen sind prima gelaufen. Auch stellt er sich passabel an und der Muttihimmel hängt voller Geigen deshalb. Auf dem Rückweg vom Kaufmannsladen nutze ich entsprechend die Gunst der Stunde und dass er nicht abhauen kann aus dem fahrenden Auto, um ein Qualitätsgespräch zu führen:

„Was hast du denn für Pläne für die Ferien? Wollen wir mal für zwei Tage nach Berlin fahren uns was angucken?“. Nein. „Vielleicht ist auch in Köln eine Daddel Convention, willst du da hin? Ich fahr mit dir!“. Nein.

Mist. So ein junger Mensch braucht doch Pläne und Ziele! Das musikalische Glückskind stimmt nun ein anderes Volkslied an und wünscht uns eine glückliche Bürste:

„Häbbi Bürste tu juu, häbbi Bürste tu juu…“

Ich zum Nicht-Sänger: „Aber sage doch mal, auf irgendwas musst du doch Bock haben! Du kannst doch nicht sechs Wochen in der Bude sitzen, pennen und Animes gucken!“. „Wenn ich die Prüfungen geschafft habe, werde ich mir richtig einen durchziehen. Darauf hab ich Bock!“.

Häh?! Was hat der gerade gesagt?! Was will der durchziehen? Doch nicht DAS, oder?! Ohweiohwei, bei der heiligen Christiane F. und allen Kindern vom Bahnhof Zoo, ich muss doch jetzt nicht dieses Sex-and-Drugs-and-Rock´n Roll-Gespräch führen, oder? Wieso? Der ist doch erst siebzehn! Ich dachte, ich habe noch massig Zeit! So etwa zehn Jahre, oder länger. Verdammt! Doch dann…

„Hach, Kinder, guckt mal! Hier ist schon unsere Straße. Da vorn steht unser Haus. Wirklich schade, aber die Fahrt ist zu Ende. Wir sind da!“.

Und von hinten trällert es:

„Geeenau! Ausstieg in Fahrtrichtung links!“

 

 

Ein Kaffee für Frau Nieselpriem

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Liebe im Wandel

Babies sind toll! Das weiß jeder. Und die Blogs und Magazine sind voll von Babies. Haltung, Förderung, Ernährung, Glückseligkeit. Alles ist wichtig, wird beleuchtet.

Und Kleinkinder sind toll! Sie lernen jeden Tag ein bisschen mehr und, hach, die Brust platzt einem als Mutter fast vor Stolz, wenn das eigene Fortpflänzchen auf einmal etwas ganz Großartiges geschafft hat. Und auch darüber kann man viel lesen. Auf Blogs zum Beispiel. Oder in Magazinen. Während dieser Zeit ist man Teil einer starken Peergroup. Und das ist schön! Es gibt ständig Austausch über Entwicklungsschritte. Wie ist das bei euch? Was kann eures schon?

Schulkinder sind dann schon „die Großen“. Gelegentlich wird noch über Schulprobleme, Hochbegabung und dergleichen geschrieben. Oder sie werden in ihrer Rolle als große Schwester und großer Bruder beschrieben.

Sind die Kinder dann zwölf, dreizehn, ist Schluss. Schluss mit lustig, Schluss mit der Berichterstattung. Peergroup Fehlanzeige. Stattdessen Pubertät. Willkommen in der Elternhölle!

Pubertät ist furchtbar.

Pubertät ist das allerschlimmste, da ist sich jeder sicher! Besonders Leute, die selbst noch keine pubertierenden Kinder haben, wissen das ganz genau und sagen zum Beispiel auf laut geäußerten späten Kinderwunsch Sachen wie: „Jetzt noch ein Kind? Nein danke. Also ich will mit sechzig keine Pubertät mehr mitmachen müssen!“. Wovon sprechen die dann genau? Von der Erinnerung an die eigene Pubertät? Oder von Erzählungen anderer?

Jetzt ist es ja so, dass man da in mir einen Gesprächspartner hat, dem nicht nur genau das bevorsteht, sondern der auch jetzt schon mit dem ersten Fortpflänzchen mittendrin ist. Entsprechend bockig reagiere ich auf derlei phrasenhafte Verallgemeinerung. Es gibt doch nicht „die“ Pubertät!

Pubertät ist individuell.

Maulen, Motzen, aufmüpfiges Verhalten ab circa dem neunten Geburtstag kann günstigerweise mit vorpubertärem Verhalten gelabelt werden. Ab dem zwölften Geburtstag dann hat man für alles eine Generalentschuldigung: Die Pubertät! Schön einfach, oder?

Pubertät ist ne super Entschuldigung für unmögliches Verhalten.

Wobei, einfach ist wohl nichts an dieser Zeit.

Ich könnte jede Woche das Blöggel füllen mit Erlebnissen mit dem Großen, meinen Gefühlen für ihn. Warum liest man dann so selten über das Leben mit Jugendlichen? Für mich ist es so, dass ich schon wahrnehme, dass mein Sohn eine Persönlichkeit ist. Noch dazu eine mit Netzpräsenz. Und mir ist vollkommen klar, dass es ihm nicht gefallen würde, über sich zu lesen. Bilder von sich zu sehen, auf denen er erkannt würde.

(Ich mache mir über dieses Phänomen schon seit längerem Gedanken, genaugenommen seit die  Diskussion über Kinderfotos im Netz entstand und ich für meinen Teil muss mir eingestehen, ja, es fällt mir sehr leicht, über mein Baby zu schreiben und es Teil dieser Geschichten in dem Blog werden zu lassen. Wenn ich darüber nachdenke habe ich stets den Eindruck, ich schade ihm nicht. Und auch was Fotos von dem Kleinsten anbelangt: He! Er sieht doch jede Woche anders aus! Und dennoch überlege ich mir oft, inwieweit das als übergrifflich gewertet werden könnte. Hm. Darüber nachzudenken ist sicher in keinem Fall verschwendete Zeit.)

Wenn ich bislang über den Großen schrieb, dann hauptsächlich über das Leben mit einem Kind, das aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur „besonders“ ist.

Besonders ist auch die Pubertät.

Mein Sohn wird sechzehn in diesem Jahr. Wenn ich neben ihm sitze und seine langen Arme ansehe, auf denen sich schon Sehnen abzeichnen, aufblicke in sein Gesicht, das eine Haupteslänge über meinem ist, dann ist das mit einem verblüfften Staunen verbunden.  Ein junger Mann mit tiefer Stimme, der so gar nichts mit dem Baby und Kleinkind von einst gemein hat. Der zum Teil gefestigte Standpunkte vertritt, der eine eigene Körperhaltung ausgeprägt hat und schon als Persönlichkeit wahrgenommen werden muss. Das ist seltsam! Ehrlich.

Ich habe viele Jahre in ständiger Sorge um diesen Jungen gelebt und habe wirklich geglaubt, ich würde niemals nie aufhören (aufhören können) ihn zu bemuttern, zu beschützen, meine Flügel schützend um ihn zu legen. Irgendwie richtet das die Natur dann doch so ein, dass die Kinder Signale geben und dass das dann ganz langsam passiert. Dieses Loslassen. Wirklich immer!

Es gibt keine körperlichen Liebesbezeugungen zwischen uns und nehme ich ihn einfach beim Kopf und drücke ihn, macht er sich steif und schüttelt mich ab wie ein Insekt. Und dennoch sind wir zwei nach wie vor in Liebe verbunden. Das wird in anderen Situationen deutlich: Wenn wir streiten und ich ihm erkläre, wie verletzt ich bin, weil ich das Gefühl habe, er respektiere mich nicht. Dann bekommt sein Blick etwas Dunkles und er versichert mir, dass das nicht so sei! Auf keinen Fall! Und wie gut er sich fühlt, wenn ich ihn lobe, weil er mir bei irgendwas geholfen hat. Wenn ich ihn sehe, wie liebevoll und fürsorglich und geduldig er mit seinem kleinen Bruder umgeht. Mit wieviel Mühe er Geschenke für unsere Geburtstage auswählt. Und wir für den seinen. Wenn ich mich manchmal morgens auf die Kante seines Bettes setze um ihn zu begrüßen und er dann doch die Hand nach mir ausstreckt… wie früher.

Gemeinsame Unternehmungen gehen jetzt immer von mir aus. Möchte ich mit meinem Sohn etwas unternehmen, muss ich mir Gedanken machen. Frage ich ihn dann, ob er mit mir einen Einkaufsbummel/ Kinobesuch/ irgendwas machen will, kommt häufig ein gelangweiltes Schulterzucken als Antwort. Gefolgt von: „Können wir mal machen.“. Reagiere ich dann gekränkt, versaue ich uns beiden den Spaß. Denn wenn wir dann wirklich mal losgehen (dazwischen kommt noch mindestens einmal „Heute nicht. Hab keen Bock!“), dann ist es schön. Und vertraut. Und es kommen gute Gespräche in Gang. Und ich spüre, wie nah wir uns noch sind.

Pubertät ist wie eine stürmische See.

HPIM1973

Dazwischen auch immer wieder Nervenaufreibendes. Ich habe vor gar nicht langer Zeit mal zu ihm gesagt: „Ich liebe dich wirklich sehr, aber im Moment kann ich dich einfach nicht leiden!“. Es hat ihn nicht geschockt, vermutlich fühlt er ähnlich…

Wir haben so viele Kämpfe durchfochten die letzten Jahre, dass mir die aktuelle Zeit wunderbar entspannt vorkommt. Es hat gedauert, Regeln für diese Familie zu etablieren und vor allem, weil der Sohn oft das Gefühl hatte, nur er müsse sich an diese Regeln halten! Da zeigte sich, dass Pubertät eben auch Prozessveränderung bedeutet. Rückwirkend ist ein festes Regelkonstrukt für uns hilfreich gewesen, da es uns ermöglichte, an explizit benennbaren Stellschrauben (zB. Pflichten im Haushalt/ Schlafenszeit/ Mediennutzungsdauer/ Taschengeld) zu drehen und damit unserem Jugendlichen das Gefühl zu geben, seine Freiheiten wüchsen mit wachsendem Alter messbar. Damit will ich um Gottes Willen nicht den Anschein erwecken, ich hätte Ahnung von solchen Dingen. Das läuft hier wie anderswo nur nach der trial-and-error-Methode.

Pubertät ist anstrengend.

Für den Jugendlichen in erster Linie. Die Hormone spielen verrückt und alles steht Kopf. Wohin will ich? Was will ich? Wen? Verrückte Fragen schwirren einem auf einmal im Kopf rum und das eigene Spiegelbild verändert sich. Nicht immer gefällt dem Jugendlichen, was er dort sieht. Dazu kommen irre Wachstumsschübe. Auf einmal wachsen bei Jungen zum Beispiel Arme und Beine sprunghaft und der junge Mensch sieht aus wie ein Schlaks, dem die Tentakel ständig im Weg sind. Dann wachsen die Finger und Zehen sprunghaft und du sitzt auf einmal am Abendbrottisch neben einem Wesen halb Mensch, halb Lurch. Dann brauchst du einen Dispokredit, weil zusätzlich zum normalen Familieneinkauf palettenweise Joghurt und säckeweise Schnitzel rangeschafft werden müssen. Zusätzlich zu Großpackungen an Keksen und Softdrinks und Süßkram. Und trotzdem wiegt der Schlaks vielleicht nur fünfundvierzig Kilo bei einem Meter siebzig Körperhöhe und du denkst, scheiße, wie krieg ich den bloß satt? Und auch der Gedanke kommt dir: Gotte sei Dank haben wir zwei Bäder! Während ich aus Erzählungen Jugendliche kenne, die mit dreckigen Fingernägeln und fettigen Haaren das Haus verlassen, haben wir ein sehr reinliches Exemplar. Was prinzipiell gut ist, aber Geduld erfordert! Also von allen anderen Familienmitgliedern. Zweimal täglich eine Stunde sind minimale Badzeiten. Währenddessen ist die Tür verschlossen und die Musik laut. Du kommst hier net rein! Also wirklich nicht. Nicht mal im Notfall. (Merke: Zwei Bäder sind wichtig. Notfalls Dixie-Klo organisieren.).

Pubertät ist also auch für Eltern anstrengend. Diese ganze Abnabelei ist wichtig, keine Frage, aber das ist auch schmerzhaft. So eine Familie ist ja ein geschlossenes System und wenn sich jemand in diesem System ändert, ruckelt alles. Das ist logisch. Und dann kann man versuchen, an alten Gesetzmäßigkeiten festzuhalten und das System im alten Modus wieder zum Laufen zu bringen. Kann man versuchen. Vielleicht klappts ne Weile. Oder das System blockiert völlig. Oder aber alle anderen verändern sich auch ein bisschen mit.

Pubertät ist die Zeit sich zu verändern und neu kennenzulernen.

Und das tut unter Umständen weh. Mensch, war doch alles so schön! Warum kann es nicht so bleiben? Darum! Weil Leben Veränderung bedeutet.

Ich habe mal bei Jesper Juul einen Slogan gelesen im Zusammenhang mit der Pubertät: „Von der Erziehung zur Beziehung“. Und da ich ja keine Erziehungsratgeber lese, hab ich mir auch nur diesen Slogan gemerkt. Treffenderweise sagt der eigentlich auch alles aus. Es ist unsinnig, einem Sechzehnjährigen irgendwas einbläuen zu wollen. Man muss anfangen, auf Augenhöhe zu gehen und ja, auch verhandeln. Seine eigenen Muster zu hinterfragen. Warum ist mir dies und das so wichtig und ist es das wirklich oder geht’s vielleicht um etwas ganz anderes? Wenn man sich darauf einlassen kann und sich auch selbst hinterfragt, kann das gut laufen. Spaß macht das nicht. Beziehungsarbeit macht in keiner Partnerschaft wirklich Spaß, sonst würde es ja Beziehungsspaß heißen! Und warum? Weil der erwachsenen Mensch (ich) ja eigentlich gern an Altbewährtem festhält und ungern Kontrolle abgibt.

Hilfreich war auch mal das Statement eines Mannes, der mit Jugendlichen arbeitet und der mir erklärte, von seinem Standpunkt aus betrachtet gibt es nur eine Sache, die ein Jugendlicher muss: Regelmäßig die Schule besuchen. Das ist sein Job. Das muss er. Alles andere sei nebensächlich. Gewagte These, aber dennoch hilfreich, wenn man vor lauter „Problemen“ nicht mehr Wald von Baum und Borke unterscheiden kann.HPIM1972

Kleine Kinder, kleine Sorgen. Große Kinder, große Sorgen. Da ist was dran. Während ich mein Kleinstes mit jeder Faser meines Seins genieße und wirklich nur im Hier und Jetzt lebe, kreisen meine Gedanken an den Großen immer mehr um die Zukunft. Und fast ausschließlich sind sie mit Sorgen, Bedenken und Ängsten behaftet. Meinen Ängsten, wohlgemerkt! Wie geht das mit der Schule weiter? Wie wird ihn die Liebe finden und wird sie große Schmerzen im Gepäck haben? Welche Erfahrungen wird er mit Drogen und Alkohol machen und wie geht das für ihn aus? Wird er Gewalterfahrung machen müssen und kann ich ihn irgendwie davor beschützen? Also vor allem? Für zehn Jahre einschließen vielleicht? Und würde ich es denn noch zehn Jahre mit diesem komplexen, anspruchsvollen, streitbaren Menschen in einem Haus aushalten?

Pubertät ist die Zeit der ambivalenten Gefühle.

Auf allen Seiten.

Es ist nach wie vor eine zärtliche Liebe in meinem Herzen. Eine Liebe, die in den letzten sechzehn Jahren einem steten Wandel unterzogen war, und dennoch lichterloh brennt. Aber mittlerweile eben anders. Ich spüre die unsichtbare Nabelschnur zwischen uns nicht mehr so stark pulsieren. Ich kann zulassen, dass andere Menschen wichtig sind in seinem Leben. Dass die Meinung anderer Leute manchmal wichtiger ist als meine. Öfter sogar.

Dass ich mehr für diese Beziehung tun muss als früher. Und vielleicht auch für die nächsten Jahre. Dass ich Angebote machen muss, dass ich auf ihn zugehen muss. Immer wieder. Auch wenn er mich anbellt, er wölle jetzt nicht reden. Gesprächsbereit bleiben. Nähe – Distanz. Den Wunsch nach beidem respektieren.

Und schlussendlich dem Bärtigen zuprosten! Denn so schlecht haben wir das die letzten Jahre wohl nicht gemacht. Jetzt zeigt sich, welche Werte und Normen in ihm verankert sind und meistens – immer öfter – gefällt mir gut, was ich sehe! Ein höflicher, sympathischer junger Mann, der ein gutes Herz hat und ein Gefühl entwickelt für seine Umwelt. Und wenn mir jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, dass ich das heute über ihn schreiben würde, hätte ich mich sehr gefreut.

Pubertät ist die beste Zeit, sich täglich einzureden: Es ist alles nur ne Phase!

HPIM1971

Der große Tag

Am vergangenen Samstag hatte unser Erstgeborener Jugendweihe. Dieses Fest geht auf die Freidenkergemeinde zurück und stellt ein nichtchristliches Pendant zur Konfirmation dar. Ein Initiationsritual, um den jungen Menschen im Kreis der Erwachsenen willkommen zu heißen.

Als DDR-Kind kam man gar nicht um dieses „Event“ drum herum, wurde es nur allzu gern instrumentalisiert, um die gewünschte Ideologie und den marxistisch-leninistischen Klassenkampfgedanken und die zweifelsohne bewiesene vorherrschende Überlegenheit des Sozialismus durch Veranstaltungen in den Köpfen und Herzen der Jugendlichen auf ewig einzupflanzen.

Hat nicht funktioniert. Wir haben alle nur wegen der Geschenke mitgemacht.

Mir gefällt allerdings der Ursprungsgedanke. Und auch heute noch werden im Rahmen dieser Weihe die Jugendlichen mit Veranstaltungen rund ums Erwachsenwerden, Erwachsensein, unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber der Welt und unseren Mitmenschen auf ihren Schritt in die Selbständigkeit vorbereitet. Es ist ein bisschen wie ein erweiterter Ethikunterricht. Nur draußen. Und alles ist freiwillig. Am Ende folgt dann eine festliche Veranstaltung mit kulturellen Beiträgen (meist in einem Theater abgehalten), wo alle Jugendlichen eines Jahrgangs im Beisein ihrer stolzen Verwandten in todschicken Klamotten auf einer Bühne stehen und die Devotionalien des Festtages entgegennehmen (Buch, Gerbera, ein Pamphlet).

Man muss den Dingen
die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann,
alles ist ausgetragen –
und dann geboren…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Rainer Maria Rilke

Auch heute machen die jungen Leute nur wegen der Geschenke mit.

Also nun der unsrige. Ich war mäßig aufgeregt. Übermäßig. Ansteigend aufgeregt, könnte man sagen. Am Vorabend legte ich schon die Klamotten der Kinder in ordentlichen Häufchen breit und ging in Gedanken alles durch. Kneipe war bestellt, Einladungen waren verschickt. Zwei Varianten, um auch ja die innerfamiliären Animositäten zu beachten! Person A kann nicht im selben Raum wie Person B sein, also kommt Person A zur Feierstunde und Person B zur anschließenden Familienfeier. Oder doch lieber umgekehrt? Das Hotel für die Leute von außerhalb reserviert. Allen erklärt, wann man sich wo trifft. Ich war soweit fertig. Der große Tag konnte kommen.

Er kam. Und ich drehte schon frühmorgens durch. Also so richtig. Nicht das Pipifax-Durchgedrehe, das ich sonst auch täglich veranstalte. Ich schmiss Kleider, Mäntel, Blusen und Schuhe in der Gegend rum. Ich hatte noch immer nichts anzuziehen! Der Beste besah sich mein Treiben mit müden Augen vom Bett aus und sagte den folgenschweren Satz: „Jetzt erst fängst du an, dir Gedanken zu machen, was du anziehst?“. Ich sag euch, der war binnen Minuten hellwach! Ein gnadenloses Donnerwetter brach über ihn herein. In Gestalt seiner hysterischen Zwergenfrau. Ob er überhaupt eine Ahnung hätte, was ich alles in den letzten Tagen und Wochen um die Ohren gehabt hätte wegen diesem Tag. Und ob ihm nicht aufgefallen sei, dass die gemeinsame Behausung bereits seit Wochen einer Edelboutique ähnelte, weil einfach an jeder Tür und an jedem Schrank Unmengen von Kleidern hingen. Und ob er auch nur den Hauch eines Verständnisses dafür aufbringen könnte, dass ich zwar an jedem Abend mit der Gewissheit ins Bett gegangen sei, etwas Passendes zum Anziehen zu haben, aber an jedem verdammten Morgen im todsicheren Bewusstsein erwacht wäre, dass einfach nichts von all dem hier wirklich passend sei! Und wenn ihm sein Leben lieb sei, dann solle er wenigstens einmal so vernünftig sein und die Klappe halten und einfach mal nicht im Weg rumstehen. Das sei schon alles. Mehr würde ich wirklich nicht verlangen! Danke.

Ich bin mit einem sehr klugen Mann verheiratet. Er nahm sich den Hosenscheißer und ging mit den Nachbarsmännern und deren Hosenscheißern einfach runter in den Hof spielen. Den ganzen Tag.

Gegen elf Uhr Mittags hatte ich noch immer nichts zum Anziehen, aber für alle Fälle schon mal Lockenwickler auf dem Kopf. Was das werden sollte, das wusste ich allerdings selbst nicht. Dennoch kam mir das anlassentsprechend vor.

Scheiße, war mir schlecht. Und ich hatte Herzrasen. Ich fühlte mich wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Eine vollkommen verrückte, durchgeknallte Braut.

Durchdrehen macht hungrig. Ich erschien in meiner Lockenwicklerpracht auf dem Balkon und bellte „Schatz!“ nach unten. Sechs Augenpaare blickten zu mir hoch (so müssen sich Könige fühlen). Ich erbat, dass einer der Schätze bitte zum Supermarkt flitzen möge um mir eine Tüte Milchreis zu besorgen. Maggifix oder Mondamin, sowas halt. Die Nachbarsmänner boten hilfreich an, mir mit Milchreis auszuhelfen. Also Körnern. Ich atmete, bis ich wieder bei Stimme war und erklärte dann bemüht unhysterisch, dass ich ganz sicher nicht in der Lage sei, dreißig Minuten in einem Topf zu rühren! Und auch sonst eher nicht der natürliche Typ sei. Ich bräuchte E-Stoffe! Stärke. Zucker! Viel. Und pronto!

Der klügste unter den Schätzen stapfte los und legte wortlos nach nur wenigen Minuten eine Tüte E-Stoff-Milchreis in den Flur. Dann ganz schnell wieder die Tür zumachen, vielleicht beißt die Frau sonst in die Hand? Man kann nie wissen…

Nachdem ich mich gestärkt hatte, durften auch die Jungs wieder rein. Ich versprach, mich zu benehmen.

Wenig später- der Bärtige stutze die Wallemähne, die ihm diesen Namen eingebracht hatte- da klingelte es. Der Pizzadienst! Ich informierte den behaarten Mann, dass ein „senior food delivery manager“ unten sei. Mit  Pizza. Der Mann empfahl, dass ich dann doch runtergehen möge um diesem Menschen im Tausch dafür Geld anzubieten (Ich hatte noch immer die Lockenwickler auf dem Kopf!). Ich informierte ihn im Gegenzug darüber, dass ich finden würde, er sei heute so hilfreich wie ein eitriges Gerstenkorn und präsentierte mich danach dem nächsten Mann an diesem Tag mit bunten Plastikwürsten auf dem Kopf.

Nach dieser neuerlichen „shame attack“ erklärte ich der Familie, ich würde das jetzt so lassen mit dem Plastekopf. Fall ich überhaupt mitkäme!

Eine Stunde vor Abmarschzeit zerrte ich die Nähmaschine aus dem Schrank, steckte mit zittrigen Fingern eine Hose ab (von der ich in diesem Moment annahm, dass sie die einzige sei, die ich heute würde tragen können) und würschte den Stoff irgendwie durch die knatternde Maschine. Der Faden riss nicht. Die Beine waren am Ende sogar gleich lang! Das war wirklich nicht zu erwarten gewesen.

Ich hatte was zum Anziehen. Ich ging also mit (Die Lockenwickler blieben zu Hause. Eine Frisur hatte ich trotzdem nicht, nur Haare, aber das war auch keine wirkliche Überraschung.). Die Jungs waren allesamt innerhalb drei Minuten fertig und sahen so… aus, dass ich schon mal probeheulte.

Programm zur Jugendweihe

Programm zur Jugendweihe

Im Theater ging es dann weiter. Eine Schauspielerin eröffnete mit Hilde Kneefs „Für mich solls rote Rosen regnen“ und ich heulte ab dem ersten „mich“. Als mein Kind auf die Bühne gerufen wurde, brachen alle Dämme. Wie er dort stand. So erwachsen, so ernst, so groß, so klein. Mein Junge.

Loslassen, ein Wort, das schwer zu fassen,
manchmal möchte ich es hassen,
trennt es doch was einst verbunden,
es entstehen tiefe Wunden.
Ich will es lernen, tut es auch weh,
und bin ich bereit, ich schließlich seh´,
daß alles im beständigen Fluß.
Loslassen ist leider ein Muß.

Irmgard Adomeit

Der Kindsvater lachte mich aus und machte Fotos von meinem verheulten Gesicht. Ich hielt mich an meinem Baby fest und ignorierte den emotional unterentwickelten Mann.

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Dann schnell Fotos machen. Du mit dem und jetzt noch mal andersherum. Nun alle bitte vor dem Springbrunnen. Halt! So nicht, bitte so. Es dauerte. Draußen lief mir bereits die Mailbox vom Handy über, weil alle, die wir irgendwie unterwegs auf dem Weg zum Restaurant treffen sollten, mich bereits darüber informierten, dass: Es zu kalt sei/ Man schon ewig warten würde/ Man jetzt alleine losginge und: Wo wir denn verdammt noch mal blieben?!

So kamen wir zu unserem eigenen Fest als letzte im Restaurant an. Alle hatten sich irgendwie platziert, Kaffee geordert und feierten schon mal los. Es gab auch keine vier zusammenhängenden Plätze mehr für uns. Man saß ja schon! Und was mer ham, das hammer. Bevor wir uns dann zu viert auf einen Eckplatz quetschten, traf aber noch eine befreundete Familie ein und ich gab die nonchalante Gastgeberin. Stellte die Freunde unseren Verwandten vor und erklärte meinen Freunden, das da vor ihnen seien quasi unsere Verwandten. Also bis auf die Familie Schiemann dort drüben, mit der wären wir nicht verwandt. Nur befreundet.

Ganz großartig…

Als ich mit einer halben Arschbacke auf dem Eckplatz verkantet war, sah ich, dass nun alle Torte schaufelten und murmelten und das gefiel mir aber auch nicht! Das war nicht festlich genug. Igerndwer müsste was sagen. Ich rungste und schubste also „Irgendwer“ zu meiner linken Seite an und besprach ihn ohne Unterlass, dass er gefälligst aufstehen und was Feierliches sagen solle!

Und der Mann hat wirklich eine leidenschaftliche Rede gehalten. Das ist nicht zu leugnen. Zuerst stellte er sich allerdings irgendwo unsichtbar an den Rand und murmelte etwas von „Tag“ und „Appetit“, was meine innere Autovervollständigung zu „Guten Tag und guten Appetit!“ auffüllte, aber dann! Mit funkensprühendem Blick schmiss er seinen Körper auf unseren Eckplatz und mit ungeahnter Leidenschaft hielt er eine Rede. An mich gerichtet. Ob ich jetzt zufrieden sei, dass er sich mal wieder zum Horst für mich gemacht hätte und dass ihm mein überkandideltes Anspruchsempfinden sowas von auf den Sack gänge! Wenn ich mich nicht sofort runterfahren würde, dann könne er heute für rein gar nichts mehr garantieren! Er habe seine letzten Haare verloren. Und die letzten Nerven, auf die ich ihm noch hätte gehen können. Es reiche!

Was für ein Temperament! Mir war ganz wuschig ❤

Leider platzierte er mich darauf ans andere Ende der Tafel, weil er sich von mir ausruhen musste. Dort saß ich dann auch den Rest des Tages und versuchte, mich dem Anlass entsprechend zu verhalten. Von dort hinten konnte ich allerdings auch nicht verhindern, dass Vater und Sohn unter großem Gejohle ihr erstes gemeinsames Bier zusammen leerten!

Nein, es war wirklich schön.

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Tags darauf nahm der Junge, der jetzt ein junger Mann ist, meine Hand und erklärte, mit dem Fotobuch und der Feier hätten wir ihm das schönste Geschenk von allen bereitet. Das aus dem Mund eines Menschen zu hören, der niemals in der Lage wäre, etwas aus bloßem Kalkül zu sagen, hat mich sehr ergriffen.

Gestern waren wir in der Stadt. Und haben uns einen Maple Macchiato geteilt. Der junge Mann und ich.

Mit der Zeit lernst Du,

dass eine Hand halten nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln.
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit.
Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen.
Und Du beginnst,
Deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind.
Und Du lernst,
all Deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen
ein zu unsicherer Boden ist.
Mit der Zeit erkennst Du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn Du zuviel davon abbekommst.
Also bestell Deinen Garten
und schmücke selbst
Dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere Dir Kränze flechten.
Und bedenke,
dass Du wirklich standhalten kannst …
und wirklich stark bist.
Und dass Du Deinen eigenen Wert hast.

Kelly Priest

Valentinstag

„Mama, ich brauche fünf Euro für eine Rose! Ich will heute um Mitternacht im Mondenschein jemandem meine Liebe gestehen.“

Den Hang zur Theatralik hat er in jedem Fall von mir.

„Freundchen, um Mitternacht gestehst du niemandem deine Liebe! Da liegst du im Bett und schläfst.“.

„Ich hoffe, du weißt, was du mir damit zerstörst!“

Die Tendenz zu übertriebener Melodramatik wohl auch…

Von Blümchen und Bienchen

„Mama, was wollen Mädchen eigentlich? Also, von einem Jungen?“. Ohne mit der Wimper zu zucken oder vom Wäscheberg aufzublicken sage ich laut: „Das fragst du deinen Vater, der weiß das besser!“. „Den hab ich schon gefragt, der meinte, das wüsste er auch gern und ich soll doch dich fragen.“. Mit einem ostentativen Blick auf den Bärtigen sage ich deutlich zu laut: „Also, das ist wirklich ganz einfach!“, und versuche Zeit zu schinden…

Minuten später sitzt mein Sohn hoffnungsvoll (und offensichtlich hoffnungslos verknallt) vor mir und guckt mich erwartungsvoll mit seinen Bambi-Augen an.

„Sie zu fragen, fällt wohl aus, nehme ich an?“ (das Kind nickt), „Das Beste ist, wenn du einfach nett bist. Und höflich. Und hilfsbereit und zuvorkommend. Und ihre Nähe suchst! Dann schnallt sie das irgendwann.“.

Oh, mein Gott, was rede ich da! Das Kind wird fünfzehn! Wann war „nett“ je in Teenagerkreisen ein USP?

Ausweglos am Ziel vorbei schwadroniere ich weiter: „Weißt du, der Papa hat mir immer die Tür aufgehalten, obwohl das damals auch nicht mehr modern war. Einfach jede. Ich habe nie eine Autotür selbst öffnen müssen, er ging immer zuerst zur Beifahrertür und hielt die mir auf. Er hat sich immer wie ein Prinz aus dem Märchen verhalten.“. Darf man das noch sagen? Wo doch heute alle Mädchen und Frauen alles selber machen wollen und können?

Ich bin überhaupt keine Hilfe! Ich seh schon, wie mich eine andere Mutter anruft und mich befragt, welche antiquierten Wertesysteme wir unserem Sohn vermitteln. Scheiße!

„Und was, wenn du ihr einen Brief schreibst? Oder ein Gedicht?“. Für mich hat nie einer ein Gedicht geschrieben.

Oh Henrike, du meines Herzens Gräte,

wenn ich dich in die Finger kriegen tun täte,

ich schmisse dich auf meine Liege!

Hat niemand je geschrieben.

„Warte, vergiss das mit dem Gedicht. Wahrscheinlich zeigt sie das all ihren Freundinnen und dann lachen die über dich.“. Vermutlich wäre das der beste Augenblick, mit der Wahrheit rauszurücken: Ich habe keine Ahnung! Das Kind schaut immer noch hoffnungsvoll. Meine Arme und Mundwinkel werden immer länger.

Soweit ich mich erinnere, geht es nur ums Überleben, wenn du fünfzehn bist und nicht zu den coolen Kids gehörst. Das Kind gehört nicht dazu. Klassenbester und Außenseiter.

Ich erinnere mich, dass ich jahrelang für einen Jungen mit wilder Frisur und irrem Blick schwärmte, der nur mit mir knutschte nach der Schuldisco, wenn wirklich, und ich meine wirklich, alle anderen Optionen noch weniger vielversprechend waren. Währenddessen…

In meiner Klasse gab es den *Max Mustermann (*Name aus Datenschutzgründen geändert), Klassenbester und altkluger Streber. Der hatte zu allem Überfluss eine schlimme Schuppen-flechte und kaute an den Nägeln. In der ersten Klasse saß der bereits neben mir auf der letzten Bank. Und tat Unerhörtes, was mich veranlasste, mich zu melden und entrüstet zu verkünden: „Frau Menke, der Max hat mich gerade geküsst!“. Ob es Sanktionen gab, weiß ich nicht mehr. Was ich weiß ist, dass er auf jedem Klassenfoto neben mir sitzt. Auf unserem Jugendweihefoto neben mir steht und selbst in der Tanzstunde… Ach, wem mache ich was vor? Er war jahrelang der Einzige, der sich für das kleine, sommersprossige Mädchen interessierte. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, rückblickend war mir gar nicht klar, dass der mich wohl urst Bombe fand (Hätter mal ein Gedicht geschrieben!). Also wurde er auch mein Tanzstundenpartner, obwohl ich lieber jemanden mit wilder Frisur gehabt hätte. Der Max klebte meine gesamte Schulzeit an mir.

Ich hatte kein Auge für die Netten, die Strebsamen. Das ist das Privileg der Pubertät. Was Aufrührerisches muss her. Wenn man in der Ecke mit den coolen Kids steht, sowieso. Und auch sonst. Dann schielt man eben zur Ecke mit den coolen Kids, und will auch dort stehen! Beliebt sein. Vielleicht dann erst recht.

Wann hört das auf? Ich hab keine Erinnerung mehr, wann „nett“ nett wurde. Leise anstatt laut, feinsinnig anstatt draufgängerisch. Sommersprossen auf den Armen anstatt Tattoos. Ab wann man sich zurückerinnert, wie die eigenen erwachsenen Vorbilder miteinander umgegangen sind. Selektiert, was man davon selbst haben möchte und was ganz anders.

„Hm, ich weiß auch nicht, was Mädchen wollen. Früher wollten sie cool sein und total beliebt. Vielleicht wollen sie das auch heute noch. Oder nur einige von ihnen. Möglicherweise findest du gerade die toll, die dich überhaupt nicht sehen. Daran kannst du vermutlich auch nicht viel ändern. Aber ich weiß ganz sicher, dass das besser wird. Später. Es wird einfacher.“ (Lüge! Schamlose Lüge!)

Das Kind schaut jetzt entmutigt und in mir krampft sich was (Wehe, wenn dem eine das Herz bricht!).

Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Nicht mit fünfzehn, nicht mit fünfzig. Aber manchmal ist es der Mut, sich zu offenbaren, der einem anderen das Herz öffnet. Nicht nur in Liebesdingen. Aber da auch. Wenn ich daran denke, mit welchem Blick mein Vater meine Mutter stets ansah, diese Mischung aus Erstaunen, Bewunderung und Stolz. Dieser Blick, der sagte: „Du bist die Eine für mich!“, vollkommen wurscht, wie antiquiert diese Äußerung auch heute sein mag. Ehrliches Interesse signalisieren, vor allem Interesse an dem, was im Herz und im Kopf los ist. Nicht nur in der Hose.

Aber das kann ich doch meinem Kind nicht sagen! Nein.

„Weißt du, wir hatten einen Jungen in der Klasse früher, der hieß Max.“, „Gehörte der zu den Coolen?“, „Nein, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob der überhaupt während der Schulzeit je eine Freundin hatte. Aber du, wenn ich den jetzt sehe bei den Klassentreffen, freue ich mich immer besonders! Und weißt du was, der ist heute Physikprofessor und schreibt Bücher und unterrichtet Studenten!“, „Heute ist der also cool?“, „Ich glaub schon.“.

Das Kind guckt erleichtert, erhebt sich vom Stuhl und im Gehen sagt er: „Vielleicht werde ich auch mal Physikprofessor!“.

Ich atme tief, ich hab´s überstanden…

In der Tür dreht er sich plötzlich um und fragt: „Und was ist mit Sex? Der Arthur sagt, Mädchen wollen immer Sex?!“. „Nein! Äh, manchmal! Aber doch nicht jetzt! Und auch nicht mit sechzehn! Also überhaupt erst… Hä?! Also, der Arthur ist ein Idiot, der hat gar keine Ahnung! Und ich muss jetzt auch mal mit der Wäsche weitermachen! Und wenn du unterwegs im Flur deinen Vater triffst, sag dem, nur weil ich mir eine goldene Handschelle habe anlegen lassen, braucht er nicht aufhören, die Türen für mich zu öffnen! Und die Erfindung der Zentralverriegelung ist überhaupt keine Entschuldigung für nachlässiges Verhalten. Und überhaupt! Wann hab ich denn das letzte Mal Blumen bekommen?! Ja, ich weiß, ich mag keine Schnittblumen, aber ich will trotzdem welche! Und Komplimente! Aufmerksamkeit! Gedichte. Sag dem das. Und außerdem will ich, dass der die Erde küsst, auf der ich wandle und mich wie eine Prinzessin behandelt! Pah, keine Ahnung haben, was Mädchen wollen!“.

Ist doch ganz einfach, oder?

Mutanten – Sie sind unter uns!

Das Kind Nummer eins und mich verbindet etwas ganz besonderes. Es ist, als sei die Nabelschnur zwischen uns nie durchschnitten worden.  Wenn wir „Wer bin ich?“ spielen, können wir nie für einander die Personen auswählen. Weil ein tiefer Blick in die Augen des anderen meist genügt, um lapidar festzustellen: „Ich bin Angela Merkel, stimmts?“, „Und ich Sheldon Cooper?!“. It´s magic!

Überhaupt dieses süße, süße Geschöpf mit einem Duft, als würde Apfelkuchen in ihm backen und Augen, riesengroß wie bei Bambi und von der glänzenden Farbe einer guten Zartbitterschokolade (mit 75% Kakao!). Wenn du da zu lange hinguckst, überfällt dich eine Heißhungerattacke. Das Größte für ihn ist, früh wie ein Tornado in mein Bett geschossen zu kommen (wenn er nicht schon als blinder Passagier drin liegt), mich wie ein Krake zu tentakeln und in meinem Arm wach zu werden. Jahrelang  habe ich ihm morgens das „Küsschen-Lied“ von Monika Ehrhardt vorgesungen oder schief und krumm „Summertime“ aus Porgy und Bess, wenn er mal krank war. Zwischen uns passt kein Blatt Papier. Er ist die größte Liebe meines Lebens.

Irgendwann ist er ausgezogen. Ohne Vorwarnung. Ohne Nachsendeadresse.

Stattdessen hat er sein Zimmer und den Platz an unserem Esstisch untervermietet an ein „Dingsbums“, ein schlechtgelauntes, knurriges, tentakeliges Mutantenwesen. Es ist fast größer als ich, die Arme und Beine sind momentan so lang, als wöllte er sich als Spiderman-Double bewerben. Das Gesicht sieht man selten, weil Sommer und Winter trotz teurer Coiffeur-Frisur unter einer Mütze versteckt (Entschuldigung! Beanie.).

Wenn ich klopfend das Ex-Kinderzimmer meines Ex-Kindes betreten will, wird mir als Willkommensgruß oft ein leidenschaftliches „RAUS!!“ entgegengerufen. Einmal war ich nachts drin. Leute, hab ich mich erschreckt! Schnarchgeräusche, ich schwöre, wie bei einer armenischen Bauarbeiterbrigade nach feuchtfröhlicher Feierabendgestaltung. Keine Ahnung, wo aus diesem spindeldürren Körper derartige Laute herkommen!

Und der Geruch! Von wegen Apfelkuchenduft… Man sagt ja, Säugetiermütter erkennen ihre Jungen blind am Duft. Also diesem Test möchte ich mich momentan zu meiner eigenen Sicherheit nicht unterziehen. Es wäre durchaus denkbar, dass ich mit einem ausgewachsenen Puma nach Hause gehen würde.

Es spricht auch ausländisch. Beim letzten Versuch einer Konversation kam aus seinem Mund etwas Sinngemäßes wie: „Ich kann jetzt mit Shader spielen ohne FPS zu loosen, weil ich mir eine Mod installiert habe, die die FPS oben hält.“ Ich verstand Bahnhof und teilte das in meiner Hilflosigkeit auch so mit. „Ey Ma, du bist so ein peinlicher noob!“ war seine Antwort. Sicherheitshalber beschränkte ich meine weiteren Kommentare auf „Hm.“s.

Manchmal möchte ich das Wesen schütteln und anschreien: „WER BIST DU UND WAS HAST DU MIT MEINEM KIND GEMACHT???!“.

Ich weiß schon, was ihr jetzt sagen wollt: Das ist die Pubertät. Das ist normal.

Nix da! Von wegen normal! Ich sag euch, was normal ist! Wenn ich darüber lese oder das anderen passiert. Das ist normal! Aber doch nicht mir, und nicht diesem süßesten Kind von allen. Ich fand das perfekt! Was für eine grausame Natur zerstört Perfektion durch Metamorphose?!

Das ist ganz, ganz schlimm. Auf einmal bist du nicht mehr der wichtigste Mensch in seinem Leben, die Sonne seines Universums. Und nichts und keiner bereitet dich darauf vor. Egal, wieviele Bücher du liest.

Und jetzt soll ich mich gedulden…riesengroße Stärke von mir! Und vertrauen! Ihm, und darauf, dass die Samen, die ich gepflanzt habe, aufgehen werden. Was für ein Blödsinn!

Ich komme mir vor wie in einem Chemieexperiment! „Na, mal sehn, ob´s Gold wird oder Meißner Porzellan…oder nur stinkt und uns allen um die Ohren fliegt.“.

Aber zum Glück habe ich meine Schatzkiste.

Wenn es brennen würde, würde ich mir unter jeden Arm ein Kind klemmen und mit den Zähnen dieses Kästchen retten.

Die gesammelten Liebesbriefe meines Kindes an mich. Wenn ich diese Schachtel öffne, dann ist er wieder da. Bei mir.

tim

Ich muss Schluss machen, ich rührseliges altes Ding. Tempos holen…