Geburtstagsgedanken

Heute bin ich neunundvierzig. Morgen fünfzig.

Absurd. Alles! Diese Zahl, die in der Vergangenheit darüber entschied, ob ich zu jung oder zu alt war. Diskobesuche nach zweiundzwanzig Uhr, zum Beispiel. Ich wurde auch mit zwanzig nie nach meinem Ausweis gefragt, ich hatte einfach alte Augen. Das ist mir heute klar, heute, wo über die schwärende Ganzkörperwunde meiner Seele eine dicke Hornhaut gewachsen ist, die nur manchmal juckt und ganz selten aufbricht – zum Glück. Zum Glück bin ich jetzt alt!

Meine persönliche Zeitrechnung beginnt vor zweiundzwanzig Jahren. Da traf ich den Bärtigen, von da an wurde alles gut. Vielleicht war er der erste Mann, der keine Angst hatte, sich mir zu stellen, vielleicht war er einfach zu jung um sich derartige Gedanken überhaupt zu machen. Mein Gott, zwanzig. Ich bin wie ein schwarzes Loch, was sämtliche Energie der Umgebung einsaugt, in saugendes Loch. Ich hatte mein Leben lang das Gefühl, es ist niemals genug Liebe da für mich und schlug wie ein verhungertes Tier meine Zähne in alles, das „Liebe“ versprach.

Ich weiß, die Umstände, warum ich eine derart fürsorgliche Mutter bin, dass sogar Begriffe wie „Rollatormutti“ völlig wirkungslos an mir abprallen, sind dem Umstand geschuldet, dass ich schmerzhaft weiß, was ein Manko an Elternliebe und das Fehlen von Bestätigung, Bewunderung und tausendfacher Versicherung des Geliebtseins und der immerwährenden schützenden Hände in der Entwicklung eines Kindes auslösen. Auslösen können. Unter fiesen Umständen. Kinder ohne Halt werden zu Erwachsenen mit haltlosem Verhalten.

Dass ich so lieben kann, so tief, dafür danke ich jeden Tag. Überhaupt ist Dankbarkeit für mich wie der Schirm, der über jedem meiner Tage spannt. Das Gefühl, dass sich alles findet, alles gut wird, dass ich beschützt, geliebt und angenommen bin. Die Glückseligkeit darüber, wie reich ich bin. Und ja, es gibt sicher Menschen, die sich meine Biografie ansehen und mir auf die Schulter klopfen würden und sagen, das hätte ich mir alles selbst „erarbeitet“. Ich mag diesen Satz nicht, weil einfach nicht alles im Leben nur von persönlichem Ehrgeiz und Fleiß abhängt.

„Life is a strange thing, just when you know how to use, then it´s gone.“, sangen irgendwann die Shakespeares Sisters und ich hoffe, meine Altersweisheit bedeutet nicht, dass die Uhr schon zwölf geschlagen hat.

Fünfzig zu werden ist nicht so ein großes Ding, nicht so wie vierzig. Glaub ich zumindest. Das ist, warum ich das jetzt hier schreibe. Ich verstehe es jetzt.

Pass auf, ich hole jetzt die fette Metaphernkeule raus. Ihr müsst kurz tapfer sein.

Tulpe-mittelalt

Guck Dir diese Tulpe an. Ich liebe Tulpen! Jeder mag Tulpen, oder? Gut, ich mag sie eigentlich nur ganz ganz frisch. Ihr kennt das, die Blüte scheint nur zaghaft aus den äußeren Blütenblättern, heimlich nur winden sich die farbigen Blätter aus ihrer Hülle, obszön fast in ihrer angedeuteten Schüchternheit. Die ganze Blume scheint kühl, als hätte sie alle Lebensenergie und alles Wasser der Erde in sich gespeichert, die Oberfläche der Stängel glatt, sie quietscht elastisch beim Biegen. Ein Sinnbild für Jugend.

Nie sind Tulpen schöner, als kurz nach dem Schnitt. Dachte ich.

Ich saß neulich vor diesem fünf Tage altem Strauß, blickte auf die faltigen Außenblätter und die verblassende Farbe und dachte mir, es wird Zeit. Der muss weg. Dann, aus einem Impuls heraus habe ich mir die vertrocknende Blüte angesehen. Und ja, vielleicht wusstet ihr schon vor mir, was mir in diesem Moment für Gedanken kamen. Alles nach außen gedreht, alle Farben, all die Schönheit und Einzigartigkeit, nichts heimliches, verstecktes. Die Blätter sind kurz vorm Fallen, aber die Blüte erstrahlt selbstbewusst und unendlich schön empor zum Himmel und… okay! Nein, ich denke natürlich nicht, dass ich eine Tulpe bin und nun isses auch mal wieder gut mit den an den Blütenblättern herbeigezogenen Vergleichen!

Was ist sagen will, ist, dass mir klar wurde, was der Satz: „Die Jugend ist an die Jugend verschwendet!“, bedeutet. So viele Möglichkeiten und keine Ahnung davon. Nein, ich möchte nicht noch mal jung sein. Ich möchte lange, sehr lange so bleiben, wie ich jetzt bin. In dem, wo ich bin und mit wem. Ich bin so glücklich und vor allem so glücklich, dass ich das so empfinden kann!

Alter und Weisheit, da sehe ich einen gebeugten Greis mit Stock und weißem Bart, und vielleicht seid ihr alle schon vor mir am Ziel gewesen und seid auch sicher, wer ihr seid und warum, aber mir sind diese Bewusstseinsebenen irgendwie verschlossen gewesen. Ich habe mich echt abgequält mit der Selbstoptimierung und dem Gefallenwollen, besonders mit dem Gefallenwollen. So viele Jahre, warum nur?

Jetzt ist das alles irgendwie klar. Und ich trauere auch nichts mehr hinterher. Alle Erfahrungen, besonders die, die so sehr weh getan haben, haben mich hierhin geführt. Ich hatte solche Angst, vierzig zu werden, ihr ahnt es ja nicht, und dann waren die letzten zehn Jahre die schönsten meines Lebens! Und ich habe wirklich vor, das in zehn Jahren auch über die nun kommenden zu sagen.

Ja, das Unsichtbarsein, das musste ich erst lernen. Irgendwie um den fünfundvierzigsten Geburtstag herum bemerkte ich, dass mich Männer (und Frauen) auf einmal anders ansahen. Für die Einen war ich plötzlich nicht mehr Konkurrenz um das Supersperma, für die anderen keine geeignete Kandidatin für ihr Supersperma. Also, wenn ich das mal auf evolutionsbiologische Vorgänge herunterbrechen darf.

Das war schmerzhaft, ein bisschen. Niemand flirtet mehr mit mir! Das einzige Mal, wo mich in letzter Zeit ein fremder Mann angeschaut hat als wäre ich ein Schweinerollbraten, das war im vergangenen Jahr und ich denke, der Kollege hatte wirklich nur Hunger, denn wir waren beim Mittagessen. Herzklopfen hatte ich dennoch, ein bisschen. Ich bin ja nicht tot.

Mir ist das in den Jahren davor gar nicht aufgefallen, wie viel und wie sehr das Sexualisierte im Alltag mitschwingt, aber ich merke jetzt deutlich den Unterschied. Da ich am Ende meiner Fruchtbarkeit angekommen bin, wird wirklich von allen um mich herum nur das Innere der Blüte gesehen, was eigentlich total super ist! Es geht nur um Leistung, Beitrag, Meinung, Tat. Und deshalb möchte ich das „nur“ in diesem Satz zurücknehmen. Die Schönheit eines Menschen macht wirklich aus, was er denkt und tut. Ich bin froh, dass ich selbst in jungen Jahren diese „Bauhaus“-Herangehensweise an andere Menschen schon für die einzig wahre hielt. Form follows function. Und deshalb bin ich auch jetzt von schönen, wunderschönen und herzensreichen Menschen umgeben. Gelebte Liebe ist die einzige Währung zwischen Menschen, die wirklich zählt auf der Welt.

Außerdem habe ich ja einen jungen Kerl, höhö. Der steht in der Blüte seiner Jahre, stark wie ein Baum und mit Supersperma, aber nix da, meiner! Manchmal guckt der mich seltsam an und fragt, ob das jetzt so weitergeht, dass mir jeden Tag was anderes wehtut und meine Stimmungsschwankungen, ALTER! Ich streichle ihm dann gern über den hübschen Kopf und erkläre, dass das hier immer noch freiwillig sei. Das alles. Und dass er jeden Tag aufs Neue entscheiden darf, ob er das noch will. Und dass meine Liebe zu ihm nichts daran ändern wird, ob er sich weiterhin für mich entscheidet oder lieber eine Dreißigjährige will. Gut, die will dann sicher Kinder bekommen und dann ist wieder nix mit Schlafen und ja, die wird auch irgendwann in die Wechseljahre kommen, aber er kann das alleine entscheiden.

Meine persönliche Zeitrechnung beginnt vor zweiundzwanzig Jahren. Da traf ich den Bärtigen. Etwa um die gleiche Zeit, es war Januar. Ich bin also heute zweiundzwanzig. Alles, was ich habe, jedes bisschen Glück, ist seine Schuld. PS. Er wohnt noch hier, heute hat er sich wieder mal für mich entschieden.

 

 

Immobiliengedanken

Wir ziehen um.

Die Unterschriften sind unter Verträge gesetzt, Malerfirma, Umzugsunternehmen, Trockenbau, alles irgendwie schon halb organisiert. Ein Nachmieter für die alte Wohnung gefunden, ein Käufer für unseren Garten… Es stehen größere Veränderungen an.

Vor sechs Jahren sind wir nach Pieschen gezogen. Und ja, ich wusste, es ist laut hier! Es ist dreckig! Aber auch authentisch, ehrlich. „Pieschen hat was.“, das sagen die, die hier leben. „Ja, Glasscherben und Hundekacke!“, sagen die, die woanders leben. Ich mochte es hier.  Aber nun zieht es uns weiter.

Uns zieht es immer irgendwann weiter. Also speziell mich! Der Freund meiner Mutter führt Buch über mein Umzugsverhalten, ich muss den mal fragen, wie der aktuelle Stand ist. Ich schätze, das wird mein neunzehnter Umzug. Wenn ich mich nicht verzählt habe…

Andere Leute sparen auf Urlaube, ein Eigenheim, einen Lotus. Ich ziehe regelmäßig um. Deshalb werde ich niemals Reichtümer besitzen. Das betrifft natürlich auch meinen Mann, da hat er wirklich Pech. Augen auf bei der Partnerwahl, sage ich da nur!

Mein Mann. Gutes Stichwort. Ich denke oft an den Bärtigen und an mich, an uns, jetzt, in den stürmischen Zeiten des Listenmachens, Planens, Rumorganisierens. Ich denke daran, durch wieviele Wohnungen, an wievielen Nachbarn vorbei uns unsere Reise bisher geführt hat. Viele unserer ehemaligen Nachbarn sind nach wie vor Freunde. Wenn wir nicht so oft umziehen würden, hätten wir die nie kennengelernt!

Begonnen hat alles vor fast zwanzig Jahren, als der Bärtige (damals sehr jung, sehr schlank und sehr glattrasiert) zu mir zog in meine kleine Dreizimmerwohnung. Ohne Balkon, am Busbahnhof. Dann, wir hatten schon über unsere gemeinsame Zukunft gesprochen und Fortpflanzungspläne, zogen wir in eine größere Dreizimmerwohnung. Genossenschaftswohnung, PVC-Bodenbelag, immerhin mit Balkon. Und das Sozialamt war gleich nebenan, das einen Teil der Miete übernahm. Er war Student, ich gleich darauf in Elternzeit. Jeder hatten wir einen Nebenjob. Vor allem hatten wir immer ein volles Haus und ja, Sorgen auch, aber nur kleine. Das Geld ist schon wieder alle! Wie kann das sein? Äh… weiß ich auch nicht. Es ist ja nicht weg, es hat jetzt nur jemand anderes, also reg dich nicht auf! Solche Sorgen eben.

Dann zogen wir in eine Dreieinhalbzimmerwohnung. Arbeiteten, heirateten, trennten uns. Zogen in zwei Zweizimmerwohnungen. Damals hatten wir wirklich Sorgen… Ich zog dann noch mal alleine mit Kind um (um in Übung zu bleiben), dann zogen wir wieder zusammen. In eine Fünfzimmerwohnung, das ist die hier in Pieschen.

Und schon damals sagten die Leute: „Menschenskinder, was wollt ihr bitte mit fünf Zimmern?!“. Wir wollten einfach Platz! Und wir hatten am Anfang ein leeres Zimmer, unser „Hoffnungszimmer“.

Seit reichlich drei Jahren ist dieses Hoffnungszimmer nun bewohnt. Wir haben keinen Platz mehr.

Das mit dem Platz ist seltsam. Wir haben uns schon quadratmetertechnisch verdoppelt seit Anbeginn unseres Zusammenlebens, aber weil wir immer mehr werden und immer mehr Erinnerungen und Leben und Dinge haben, brauchen wir auch mehr Raum! In Zeiten, wo alle von simplify-dein-irgendwas reden, bin ich eine Bewahrerin. Von Klamotten und Schuhen kann ich mich gut trennen, nicht aber von Kinderzeichnungen, gebastelten Ding-sen, Faschingskostümen (voller Erinnerungen) und so weiter. Erinnerungen an die Kinder, Erinnerungen an unsere Familie. Kistenweise Fotos von Urlauben, Ausflügen, Schuleinführung (Ja, auch die Zuckertüten habe ich noch, natürlich! Und alle Milchzähne.), Weihnachtsfesten. Fotos im Kreissaal, das erste Kind ohne Zähne, mit Milchzähnen, mit Zahnlücken, mit Zahnspange. Schätze.

Okay, eine gewisse Sammelwut lässt sich mir nicht absprechen! Ich kann noch nicht mal getrocknetes Gras aus dem Osternest wegschmeißen. Man kann doch damit irgendwas basteln! Oder dekorieren! Und ist nicht das dieses „nachhaltig“, von dem immer alle reden? Na also.

Wann denn genau der Gedanke aufkam, dass es jetzt ein Haus zur Miete sein soll, weiß ich gar nicht. Seit Anfang des Jahres haben wir erst lose, dann zunehmend mit mehr Engagement und am Ende regelrechter Vehemenz, gesucht. Es gab Wochen, da habe ich mit fünf Hausangeboten und Maklern um Besichtigungstermine jongliert und die versucht, in unsere Kalender zu integrieren.

Wir haben ziemlich kuriose Sachen erlebt. Von verdreckten, abgeranzten Buden mit schimmligen Fenstergummis („Das ist kein Schimmel, das muss nur mal geputzt werden!“), über dreiste Makler („Was wollen sie? Über die Grundmiete reden? Ich wusste gleich, dass sie sich dieses Haus nicht leisten können!“) bis hin zu seltsamen Besitzern („Ich habe sie gegoogelt!“, anstatt eines „Hallo, guten Tag.“, „Sie sind doch die mit dem Blog, oder?“). Bei einem Haus wurde uns mitgeteilt, der Besitzer wünschte nach einem ersten Auswahlverfahren alle Bewerber persönlich kennenzulernen um nach einem Gespräch sich dann für einen Mieter zu entscheiden. Assesment center für Mieter, man glaubt es nicht (Das betreffende Haus steht im übrigen immer noch leer).

Wir haben ein Haus gefunden.

Oder das Haus uns. Denn ehrlich gesagt, hat es wohl auf uns gewartet. Meine Freundin hatte mir schon vor Monaten einen Link zum Exposé geschickt. Es kam damals nicht in Frage. Während der ganzen Zeit der Suche hat sich auch erst herauskristallisiert, was wir suchen! Und unsere Vorstellung von dem Haus, das es dann sein soll, sich auch sehr verändert. Das war spannend zu erleben. Und manchmal schien es, als würden wir niemals ein Haus finden, das uns beiden gefallen könnte. Wir haben gestritten, gefeilscht, argumentiert und manchmal einfach geschwiegen. Und uns am Ende gemeinsam entscheiden.

Vor einigen Tagen war ich zum Messen im zukünftigen Haus.

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Ich stand auf dem leeren Dachboden, der irgendwann unser Schlafzimmer sein wird. Achtzig Quadratmeter, so groß waren manche Wohnungen nicht, in denen wir zu dritt gewohnt haben, und habe an uns gedacht.

Ich bin durch das Haus gegangen, voller Vorfreude. Auf den Trubel, auf das Neue, das in diesem Haus passieren wird. Auf uns. Hier drin. Und dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben auf etwas einlasse, das ein „wir“ braucht.

Denn: Für mein persönliches Freiheitsempfinden hatte ich stets im Leben die Maxime, mir nie mehr aufzuhalsen, als ich auch allein würde tragen können. Kinder, Arbeit, Schulden.

„Freedom is just another word for nothing left to lose“ (Janis Joplin)

Nun, die Mietbelastung für dieses Haus wird keiner von uns beiden alleine tragen können! Das ist ein Fakt, das ist nichts, worüber wir sprechen würden. Sprechen müssten. Und so ist unser beider Unterschrift unter dem Mietvertrag für dieses große Haus mit viel Platz für Neues auch ein weiteres Bekenntnis zueinander. Ja, ich will mit dir weiter zusammenleben! Größer, weiter, ohne Netz und doppelten Boden. Nach dem Umzug und den Umbauten pleite vermutlich, aber he, lass uns das machen! Ein neues Nest für unsere Familie. Du und ich. Wir.

Schön.

Hochzeitstag

Am Donnerstag letzter Woche sind der bärtige Mann und ich seit langem mal wieder ausgegangen. So mit vier-Gänge-Menü und Wein und Kerzen und so. Wir mussten gar nicht weit weg, wir konnten laufen! Wir waren schick französisch essen. Und das in Pieschen. Echt jetzt. Über das Restaurant werde ich noch mal gesondert berichten, das hat einen eigenen Beitrag verdient. 😉 IMG_3889

Zehn Jahre sind wir jetzt verheiratet. Ich bin ein bisschen rührselig und habe den alten staubigen Koffer mit den Erinnerungen vom Schrank geholt . Und Irgendwie hallt mir das doch schon ein paar Tage nach und deshalb gibt’s jetzt wahre Worte über die Ehe. Und Weisheiten! Oder auch nicht.IMG_3896

Wir haben uns vor achtzehn Jahren unter Umständen kennengelernt, die einer Lüge bedürfen, sollten uns die Kinder irgendwann danach fragen…

Das mit uns bahnte sich nicht stürmisch an, eher behutsam. Aber auf eine ganz und gar besondere, neue Art. Und als ich anderthalb Jahre darauf mit dem Pubertino schwanger war, sagte ich dem Mann (der damals noch kein Bärtiger war), ich hätte es gewusst. Bereits an unserem ersten Date. Damals liefen wir romantisch durch Moritzburg und irgendwie hatte ich eine „Erscheinung“. Ich sah ihn neben mir einen Kinderwagen schieben (Wenn ich ihm das bereits beim ersten Date erzählt hätte, wäre es sicher nicht so weit gekommen. Mir ist klar, wie das klingt!). Aber alles war anders als bisher. Weniger Feuer, Action, dafür mehr… hm… Beständigkeit, Wärme, Selbstverständnis. Und der inniglichen Wunsch bei mir, es bloß nicht zu versauen!

Denn der junge Mann hatte es drauf: Türen aufhalten, Jacke abnehmen, Kofferraum voller Blumen. Alles aus einer liebevollen Selbstverständlichkeit und einem großen Respekt heraus und nicht, weil er mich für bedürftig oder unselbständig hielt. Und Komplimente kann der machen! Ich erinnere mich an einen Vorfall, als er Stunden zu spät und angeschickert von einer Radtour nach Hause kam, beide Arme voller langstieliger Sonnenblumen, und sagte: „Du darfst nicht böse sein, weil ich so spät komme! Ich habe dieses Sonnenblumenfeld gefunden und stundenlang nach einer Blume gesucht, die so schön ist wie du. Ich habe keine gefunden, deshalb musst du jetzt mit denen hier vorliebnehmen.“ (Ja ja ja. Hört auf, Geräusche zu machen! Ist lange her.)IMG_3895

Er ist was Besonderes. Ganz ehrlich.

Die letzten zehn Jahre waren stürmisch. Wir haben viel erlebt gemeinsam. Das ist, was Ehepaare nach so einer Zeit immer sagen. Wir haben wirklich viel erlebt. Viel Kummer, Sorgen, Trennung, Versöhnung. Schlaflose Nächte aus Sorge um unseren Sohn, schlaflose Nächte aus Sorge um den jeweils anderen. All das. Und wir sind immer noch hier.IMG_3893

Es wird ja viel geschrieben darüber, was das Geheimnis langer Partnerschaften ist. Man hört zum Beispiel, viel Zeit miteinander zu verbringen sei wichtig. Nun, ich kenne langjährige Ehepaare, deren Geheimnis des Glückes eher das Gegenteil ist! Oder gemeinsame Hobbies. Meins wäre das nicht. Genauso wenig wie ich Bergsteigen, Abenteuerreisen oder Mountainbiken will, will ich, dass der Mann neben mir an der Nähmaschine sitzt oder einen Blog schreibt. Und selbst das Laufen, das wir ja beide betreiben, tun wir getrennt, wenngleich aus praktischen Gründen. Immerhin haben wir mittlerweile zwei Kinder, die wir nicht einfach so sich selbst überlassen können.

Überhaupt, wenn aus einem Liebespaar ein Elternpaar wird, ändert sich die Qualität der Beziehung. Ob verheiratet oder nicht spielt da keine Rolle. Viele sehen den Verzicht, sehen, was wegfällt für Jahre. Oder unwiederbringlich. Ich habe dem nie hinterhergetrauert und fand, unsere Beziehung hat durch die Elternschaft noch an Tiefgang und Qualität gewonnen. Diesen, meinen Mann, als Vater zu erleben, hat doch meiner Entscheidung für ihn noch mal eine ganz andere Tragweite gegeben.IMG_3891

Liebe. Was macht das aus? Was ist das überhaupt? Warum der „eine“? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht mit rationalen Gedanken. Es ist ein diffuses Wissen, das von ganz woanders herkommt. Nicht aus dem grauen Klumpen oben in der Birne. Diese Wucht an Jahren, dieses an- einander- gewöhnt-sein, das einander- die- Sätze- vervollständigen. Einer spricht aus, was der andere denkt. Lauter Dinge, die langweilig sein können, banal und unbedeutend, oder eine tiefe warme Vertrautheit darstellen. Etwas ganz Kostbares, das eben nicht austauschbar ist auf die Schnelle. Das Wissen, egal was passiert, hinter dir steht jemand. Und zwar immer und bei jedem Wetter! …Und immer noch nach so vielen Jahren ein Kribbeln, wenn der andere nackt im Flur an einem vorübergeht…

So, genug geschnulzt! Jetzt kommen harte Fakten. Wie ist das also beim alten Nieselpriem-Ehepaar?

Nun, zuerst einmal reicht es nicht, sich gegenseitig zu hassen und zu verabscheuen, wenn der jeweils andere krank ist und inperformant. Das gehört für uns selbstverständlich dazu, aber andere Dinge sind uns auch sehr wichtig. Zum Beispiel:

Tiefsinnige Gespräche führen

„Ich hätte doch Medizin studieren sollen. Also nichts mit röchelnden Menschen, aus denen Zeug rausläuft. Aber Haarforensik. Also Haarforensik hätte ich sehr interessant gefunden!“

Eine konstruktive Streitkultur pflegen

„Du bist so ein Blödmann und damit du´s weißt, den Sex von heute Morgen nehme ich zurück!“. „Da kann man mal sehen, wie blöd du erst bist! Erlebten Sex kann man nicht zurücknehmen!“. „Und du, du bist ja noch viel blöder als ich dachte. Ich kann sehr wohl, habe ich hiermit getan. So!“

Obsessionen teilen

„Du, sag mal, denkst du auch manchmal, du könntest dem Baby vor lauter Liebe einfach in die Speckärmchen oder in die Schenkel beißen?“. „Klar, andauernd.“

Geduld

„Mäusel, sei doch vernünftig. Bitte hör doch nur ein einziges Mal auf mich! Komm, Mäusel, bitte…“. „NEIN! Und höre auf, mich anzumäuseln!“

Der Altersunterschied von acht Jahren war nie ein Thema

„Gib mal den Schwebedeckel.“. „Pfff, den was? Meinst du das Frisbee?“. „Du brauchst gar nicht zu lachen, du Schnösel! Ich bin nicht wie du in der BRD aufgewachsen. Da, wo ich herkomme, hatten wir kein Frisbee. Wir waren froh, wenn wir einen Schwebedeckel hatten. Und jetzt rück das Scheißding raus!“

Außerdem haben wir eine Spezialsprache, Codes, Super-Spitznamen und einen Heidenspaß daran, dem anderen einen Streich zu spielen. Wir sind somit unsterblich! Außer, ich bin alt und röchle und Zeug läuft aus mir raus. Dann muss ich leider weg ins Heim, da war er stets ehrlich zu mir.

Wobei… sicher ist ganz sicher nichts. Die Liebe ist gestorben, eingeschlafen, vorbei, wir haben uns auseinandergelebt. Wir alle haben das schon gehört oder gesagt. Wie passiert sowas? Ich weiß es nicht, habe aber eine Heidenangst davor.IMG_3894

Es ist kostbar, was wir haben. Jedes bisschen Glück ist nur geliehen. Aber ich glaube, mir ist wichtig, das mir immer mal wieder vor Augen zu führen. Bei allem Gerangel um alltägliche Banalitäten, das, worum es geht, ist das „wir“. Und „wir“ sind so in dieser Konstellation etwas ganz Besonderes.

Romantik ist ja nicht so meins, ich bin so romantisch wie eine abgelaufene Parkuhr. Und ich bin anstrengend! Und kompliziert! Und hysterisch! Schmeiße das Geld zum Fenster raus! Permanent müde! Nicht an sience fiction interessiert oder Bergtouren. Und bestimmt keine supertolle Ehefrau. Aber ich versuche es. Also manchmal versuche ich es. Ich denke zumindest darüber nach! Nachdenken ist wichtig. Also darüber, wie wichtig der andere einem ist… ach, jetzt Schluss hier mit der Rührseligkeit! Hoch die Tassen, wir haben die ZEHN geschafft! Schatz, du bist ein Schatz. Mein Bärtiger. Mein Bärentöter, mein Raubtierbezwinger, mein Mann. ❤

Und wage dir bloß nicht, dich vom Acker zu machen mit so´ner Stringtanga tragenden Möchtegern-Latina! Da brennt die Hütte, da haste Enthaarungsmittel im Shampoo. Da streue ich Grassamen in all deine Schuhe und gieße. Lackiere Dein Mountainbike mit Nagellack und koche deine Outdoorklamotten. Also, nur so als Idee. Weißte Bescheid!IMG_3897

Von Blümchen und Bienchen

„Mama, was wollen Mädchen eigentlich? Also, von einem Jungen?“. Ohne mit der Wimper zu zucken oder vom Wäscheberg aufzublicken sage ich laut: „Das fragst du deinen Vater, der weiß das besser!“. „Den hab ich schon gefragt, der meinte, das wüsste er auch gern und ich soll doch dich fragen.“. Mit einem ostentativen Blick auf den Bärtigen sage ich deutlich zu laut: „Also, das ist wirklich ganz einfach!“, und versuche Zeit zu schinden…

Minuten später sitzt mein Sohn hoffnungsvoll (und offensichtlich hoffnungslos verknallt) vor mir und guckt mich erwartungsvoll mit seinen Bambi-Augen an.

„Sie zu fragen, fällt wohl aus, nehme ich an?“ (das Kind nickt), „Das Beste ist, wenn du einfach nett bist. Und höflich. Und hilfsbereit und zuvorkommend. Und ihre Nähe suchst! Dann schnallt sie das irgendwann.“.

Oh, mein Gott, was rede ich da! Das Kind wird fünfzehn! Wann war „nett“ je in Teenagerkreisen ein USP?

Ausweglos am Ziel vorbei schwadroniere ich weiter: „Weißt du, der Papa hat mir immer die Tür aufgehalten, obwohl das damals auch nicht mehr modern war. Einfach jede. Ich habe nie eine Autotür selbst öffnen müssen, er ging immer zuerst zur Beifahrertür und hielt die mir auf. Er hat sich immer wie ein Prinz aus dem Märchen verhalten.“. Darf man das noch sagen? Wo doch heute alle Mädchen und Frauen alles selber machen wollen und können?

Ich bin überhaupt keine Hilfe! Ich seh schon, wie mich eine andere Mutter anruft und mich befragt, welche antiquierten Wertesysteme wir unserem Sohn vermitteln. Scheiße!

„Und was, wenn du ihr einen Brief schreibst? Oder ein Gedicht?“. Für mich hat nie einer ein Gedicht geschrieben.

Oh Henrike, du meines Herzens Gräte,

wenn ich dich in die Finger kriegen tun täte,

ich schmisse dich auf meine Liege!

Hat niemand je geschrieben.

„Warte, vergiss das mit dem Gedicht. Wahrscheinlich zeigt sie das all ihren Freundinnen und dann lachen die über dich.“. Vermutlich wäre das der beste Augenblick, mit der Wahrheit rauszurücken: Ich habe keine Ahnung! Das Kind schaut immer noch hoffnungsvoll. Meine Arme und Mundwinkel werden immer länger.

Soweit ich mich erinnere, geht es nur ums Überleben, wenn du fünfzehn bist und nicht zu den coolen Kids gehörst. Das Kind gehört nicht dazu. Klassenbester und Außenseiter.

Ich erinnere mich, dass ich jahrelang für einen Jungen mit wilder Frisur und irrem Blick schwärmte, der nur mit mir knutschte nach der Schuldisco, wenn wirklich, und ich meine wirklich, alle anderen Optionen noch weniger vielversprechend waren. Währenddessen…

In meiner Klasse gab es den *Max Mustermann (*Name aus Datenschutzgründen geändert), Klassenbester und altkluger Streber. Der hatte zu allem Überfluss eine schlimme Schuppen-flechte und kaute an den Nägeln. In der ersten Klasse saß der bereits neben mir auf der letzten Bank. Und tat Unerhörtes, was mich veranlasste, mich zu melden und entrüstet zu verkünden: „Frau Menke, der Max hat mich gerade geküsst!“. Ob es Sanktionen gab, weiß ich nicht mehr. Was ich weiß ist, dass er auf jedem Klassenfoto neben mir sitzt. Auf unserem Jugendweihefoto neben mir steht und selbst in der Tanzstunde… Ach, wem mache ich was vor? Er war jahrelang der Einzige, der sich für das kleine, sommersprossige Mädchen interessierte. Er hatte nicht den Hauch einer Chance, rückblickend war mir gar nicht klar, dass der mich wohl urst Bombe fand (Hätter mal ein Gedicht geschrieben!). Also wurde er auch mein Tanzstundenpartner, obwohl ich lieber jemanden mit wilder Frisur gehabt hätte. Der Max klebte meine gesamte Schulzeit an mir.

Ich hatte kein Auge für die Netten, die Strebsamen. Das ist das Privileg der Pubertät. Was Aufrührerisches muss her. Wenn man in der Ecke mit den coolen Kids steht, sowieso. Und auch sonst. Dann schielt man eben zur Ecke mit den coolen Kids, und will auch dort stehen! Beliebt sein. Vielleicht dann erst recht.

Wann hört das auf? Ich hab keine Erinnerung mehr, wann „nett“ nett wurde. Leise anstatt laut, feinsinnig anstatt draufgängerisch. Sommersprossen auf den Armen anstatt Tattoos. Ab wann man sich zurückerinnert, wie die eigenen erwachsenen Vorbilder miteinander umgegangen sind. Selektiert, was man davon selbst haben möchte und was ganz anders.

„Hm, ich weiß auch nicht, was Mädchen wollen. Früher wollten sie cool sein und total beliebt. Vielleicht wollen sie das auch heute noch. Oder nur einige von ihnen. Möglicherweise findest du gerade die toll, die dich überhaupt nicht sehen. Daran kannst du vermutlich auch nicht viel ändern. Aber ich weiß ganz sicher, dass das besser wird. Später. Es wird einfacher.“ (Lüge! Schamlose Lüge!)

Das Kind schaut jetzt entmutigt und in mir krampft sich was (Wehe, wenn dem eine das Herz bricht!).

Man kann sich nicht aussuchen, in wen man sich verliebt. Nicht mit fünfzehn, nicht mit fünfzig. Aber manchmal ist es der Mut, sich zu offenbaren, der einem anderen das Herz öffnet. Nicht nur in Liebesdingen. Aber da auch. Wenn ich daran denke, mit welchem Blick mein Vater meine Mutter stets ansah, diese Mischung aus Erstaunen, Bewunderung und Stolz. Dieser Blick, der sagte: „Du bist die Eine für mich!“, vollkommen wurscht, wie antiquiert diese Äußerung auch heute sein mag. Ehrliches Interesse signalisieren, vor allem Interesse an dem, was im Herz und im Kopf los ist. Nicht nur in der Hose.

Aber das kann ich doch meinem Kind nicht sagen! Nein.

„Weißt du, wir hatten einen Jungen in der Klasse früher, der hieß Max.“, „Gehörte der zu den Coolen?“, „Nein, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob der überhaupt während der Schulzeit je eine Freundin hatte. Aber du, wenn ich den jetzt sehe bei den Klassentreffen, freue ich mich immer besonders! Und weißt du was, der ist heute Physikprofessor und schreibt Bücher und unterrichtet Studenten!“, „Heute ist der also cool?“, „Ich glaub schon.“.

Das Kind guckt erleichtert, erhebt sich vom Stuhl und im Gehen sagt er: „Vielleicht werde ich auch mal Physikprofessor!“.

Ich atme tief, ich hab´s überstanden…

In der Tür dreht er sich plötzlich um und fragt: „Und was ist mit Sex? Der Arthur sagt, Mädchen wollen immer Sex?!“. „Nein! Äh, manchmal! Aber doch nicht jetzt! Und auch nicht mit sechzehn! Also überhaupt erst… Hä?! Also, der Arthur ist ein Idiot, der hat gar keine Ahnung! Und ich muss jetzt auch mal mit der Wäsche weitermachen! Und wenn du unterwegs im Flur deinen Vater triffst, sag dem, nur weil ich mir eine goldene Handschelle habe anlegen lassen, braucht er nicht aufhören, die Türen für mich zu öffnen! Und die Erfindung der Zentralverriegelung ist überhaupt keine Entschuldigung für nachlässiges Verhalten. Und überhaupt! Wann hab ich denn das letzte Mal Blumen bekommen?! Ja, ich weiß, ich mag keine Schnittblumen, aber ich will trotzdem welche! Und Komplimente! Aufmerksamkeit! Gedichte. Sag dem das. Und außerdem will ich, dass der die Erde küsst, auf der ich wandle und mich wie eine Prinzessin behandelt! Pah, keine Ahnung haben, was Mädchen wollen!“.

Ist doch ganz einfach, oder?