Frühjahr in Sachsen. Zeit der Jugendweihen, seit Jahrzehnten und immer noch. Nächstes Jahr ist das Großkind dran. Unglaublich! Letzte Woche eingeschult und nun schon bald erwachsen. Das Leben mit Kindern verläuft in beängstigender Weise im Zeitraffer, oder?
Seit Monaten beschäftigen mich bereits die tragenden Themen rund um den denkwürdigen Tag (Was ziehe ich an? Wo feiern wir? Mit der Klasse zusammen oder alleine? Was ziehe ich an? Wen laden wir ein? Was schenken wir? Was ziehe ich an? Die Dingsbums hat ihren Zwillingen letztes Jahr eine Rundreise durch Florida geschenkt, oh Gott! Ich muss nachziehen! Hubschrauberrundflug?! Was ziehe ich an? Und um das Lokal muss ich mich auch langsam kümmern, sonst wird’s nur der Späti an der Ecke… Was ziehe ich an?).
Heute habe ich einen Artikel gelesen auf SPON, der leider vollkommen zu Unrecht verrissen wurde, und der mich zum Schmunzeln brachte und meine Erinnerung angefeuert hat. Alte Leute reden ja immer gern von früher…
Um die Jugendweihe wurde ein großes Brimborium gemacht in den Achtzigern.
Am Tag nach der Jugendweihe mussten dich alle mit „Sie“ ansprechen und „Fräulein“. Hat sich niemand dran gehalten. Mein Kind Nummer eins wurde in die Grundschule eingeschult, in der ich zehn Jahre beschult wurde (damals war es eine „polytechnische Oberschule“ und ging von Klassenstufe 1-10). Irgendwie schien die Zeit still gestanden zu sein, denn meine Deutschlehrerin von einst wurde des Kindes Klassenlehrerin und duzte mich selbstverständlich nach wie vor! Wenn ich beim Elternabend in dem schmalen Stühlchen saß, hatte ich immer das Gefühl, ich müsste mich besonders anstrengen und gleich würde sie sagen: „Also Henrike, von dir habe ich eigentlich mehr erwartet! Ach, und von deinem Sohn im Übrigen auch!“.
Zurück nach neunzehnpaarundachtzig. Die Klamottenfrage war dramatisch. Viel Spielraum gab es ja nicht und die Sorge, dass ich am GROßEN Tag in den gleichen Sachen wie Ines, Grit und Kerstin dastehe, war durchaus berechtigt. Wenn es in der Jugendmode eine Lieferung Blusen gab (ein Modell, drei Größen, zehn Stück…oder so ähnlich), wurde im volkseigenen Betrieb der Lötkolben weggeschmissen und etwa vierundachtzig ehrbare weibliche Mitglieder des Arbeiter-und Bauern-Staates stellten sich artig in einer Reihe vor dem Geschäft auf und hofften wider besseren Wissens, dass die zehn gelieferten Blusen für alle Jugendweihe-Töchter der anstehenden vierundachtzig Mütter reichen würden.
In meiner Verzweiflung band meine Mutter mir ein weinrotes Samtband um den beblusten Hals (als kleine persönliche Note und damit man wusste, wo mein Hals war. Oder damit sie mich wiederfand, ich weiß es nicht). Sie schnitt mir ordentlich die Haare und selbst da hatte ich Glück: anstatt des sonst üblichen Mireille Mathieu-Topfschnittes bekam ich etwas, was einem Herrenhaarschnitt nicht unähnlich war (Exkurs: Meine Mutter schnitt der kompletten Familie die Haare und sie gab sich sehr viel Mühe. Gut, meist hatten mein Vater, meine Schwester und ich dasselbe „Modell“, aber hey, es wächst ja wieder!). Gewandet wurde ich in einen blauen Polyesterrock mit Rüschen und weißen Pünktchen, knielang. Weiße Strumpfhosen, weiße Bluse mit Puffärmeln und dem genannten roten Samtband. Und leuchtend rote Schuhe. Die waren der Kracher. Wie Kinderschuhe so rundgelutscht vorn und mit Riemchen um den Knöchel. Also, stellt euch hellrote Lauflernschuhe für Mädchen vor, aber in Größe 37! Ich sah nicht nur fetzig aus, sondern urst schnieke (Ich kann mir vor lauter Lachtränen kaum in Ruhe das Foto ansehen). Die Sorge um Nachahmung war im Nachhinein unbegründet: Niemand außer mir trug diese modische Kombination!
Das Initiations-Ritual und die unendlich lange Feierstunde fanden mit allen Jugendweihe-Anwärtern meines Jahrganges im großen Saal des Kulturpalastes statt. Es wurde viel über Verantwortung geredet, jeder bekam ein klassenkampfkonformes Buch, das niemand las, den ich kenne. Und dann endlich feiern und Geschenke!
Hach, das war schön! Wir waren mit Omas, Opas, Tanten und so weiter richtig schick essen… in einer Gartenspartenkneipe. Wir waren die einzigen Gäste dort. Ich muss mal bei Gelegenheit fragen, ob meine Mutter von dem Ereignis überrascht wurde (Uups! Die Rike hat morgen Jugendweihe!) oder ob die Gartenspelunke der ganz heiße Tipp war… Ich weiß nicht mehr, was es zu essen gab, vermutlich Schnitzel mit Mischgemüse. Bestimmt hat es sehr lecker geschmeckt, ich will hier auch nicht undankbar erscheinen (Aber für alle Fälle geh ich jetzt schon mal in die Spur für die Jugendweihe meines Sohnes im nächsten Jahr und 2020 wird das Kind Nummer zwei eingeschult, ich sollte schon mit dem Listenschreiben beginnen…).
Die angesagten Geschenke damals waren: Kasettenrekorder, Moped, Geld. Ich bekam eine Quarzuhr von einem Onkel, der war sofort mein Lieblingsonkel. Einen gebrauchten „Stern“-Rekorder, mit dem ich ab sofort unter der Bettdecke DT64 hören konnte. (Wir haben im Tal der Ahnungslosen keinerlei Westsender empfangen können, die Auswahl des Campingplatzes für den Sommerurlaub wurde danach getroffen, ob man dort Westfernsehen gucken konnte und ich kann mich erinnern, dass ich meinen Vater mal aus dem Wohnwagen habe rufen hören: „Kommt schnell rein! Die Werbung fängt an!“. Das war das Größte: Kinderriegel im Fernsehen. Ich schweife schon wieder ab…).
Außerdem bekam ich Sachen für die Aussteuer geschenkt, im Ernst. Handtücher, Bettzeug, Nachtwäsche. Nichts davon besitze ich noch. Wahrscheinlich glaubten meine Verwandten, bei meiner Schönheit bin ich mit achtzehn unter der Haube und brauche dringend Handtücher! Aus gutem Frottee! Vom VEB Frottierwaren Elsterwerda.
Abends wurde beim Kunne gefeiert. Der Kunne war mein On/Off- Freund, wie man heute sagen würde und wir haben wild geknutscht seit der siebten Klasse. Das machten alle, in Ermangelung einer anderen Freizeitbeschäftigung. Kein Computer, kein DS, nicht mal´n Gameboy oder Fernsehprogramm! Aber Sportvereine an jeder Ecke. Für die Unsportlichen blieb nur das Fummeln.
Jedenfalls saßen ein paar Jugendliche beim Kunne und haben auf seinem neuen Kassettenrekorder Musik gehört und es gab Bowle mit Mischobst und ganz wenig Sekt. Mir hat es nicht geschmeckt.
Abends sollte mein Vater mich dort abholen um die ordnungsgemäße Heimkehr der Jungfer zu gewährleisten, die womöglich volltrunken ihren Eintritt in die Welt der Erwachsenen feiert. Er hat sich dann von Kunnes Eltern irgendwie in die Küche locken lassen, wo er genötigt wurde, mit ihnen beim Alkohol den Abschied von der Kindheit der Kinder zu betrauern.
Wir sind dann Arm in Arm nach Hause gegangen, das erwachsenen Fräulein (Schon an diesem Abend ein große Stütze der Gesellschaft!) und ihr Vater. In der Mitte der Straße sind wir gelaufen, damit wir nicht an die Laternen anstoßen.
So war das damals im letzten Jahrhundert. Und nächstes Jahr stehe ich schon auf der Seite der augenfeuchten Oldies.
Da fällt mir ein: Was ziehe ich an?
Henrike, Du hast vergessen, DAS BILD einzubinden.
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Herrlich!! 😀
Was du von deiner Schule und der deines Großen erzählst, so war es bei uns über Generationen. Ich war aber dann die letzte. Soooo schade! Alles nur, weil ich Depp einen von weit genommen habe.
Meine Klassenlehrerin ging letzten Sommer in Rente und der Physiklehrer, den schon meine Mutter hatte, unter die Erde.
Hätte meinem Pubi jedenfalls gut getan, unsere einzige Schule am Ort. Und meinem Geflügel später sowieso.
Was ziehst du an?
Na, was Figurbetontes! 🙂
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So, ick jeh jetzt erstmal den Artikel teilen. Herrlichst, liebe Rike! Bei meiner Jugendweihe „war schon Westen“ (öhm…2001) aber ich hatte großen Spaß bei deiner Schilderung und der Zeitreise in die 80er!
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Herrlich!!! Ich hab zwar leider keine Ahnung was eine Jugendweihe ist, aber bin mir sicher dass sie nur den Besten zuteil wird. Oh Mann wie ich mich auf Dich im echten Leben freue!! ❤️
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