Normalnull

Seit Tagen schiebe ich Formularzeugs auf meinem Schreibtisch hin und her. Immer liegt es mir irgendwie im Weg und brüllt „FRIENDLY REMINDER!!!“.

Ich tu mich schwer, aber ich tu jetzt. Zumindest darüber reden, warum es so schwer ist, das Gelumpe auszufüllen.

Unser Großer ist ein „besonderes“ Kind, immer schon. Bereits seit Eintritt in die Sozialisierungsanstalten wurde sein Verhalten thematisiert: Spielt nicht mit anderen oder weist andere permanent auf „falsches“ Spielen hin, will alles in einer bestimmten Ordnung haben und ausführen, kann sich nicht an Regeln und Anweisungen halten. Wir haben uns zu diesem Zeitpunkt keine Sorgen gemacht. Das „Problem“ hatten nur die anderen.

Er wuchs heran. Zu hause hatten wir ein wildes, aber fröhliches Kind. Probleme zeigten sich immer, wenn Vergleichsoperatoren anwesend waren. Andere Kinder, andere Eltern. Dann war offensichtlich, hm, der ist nicht wie die. Er stand immer bei den Erwachsenen und wollte sich mitunterhalten. Ein kleiner Junge, der mit großen Kulleraugen altklug in einer eloquenten Altherrensprache auftritt, amüsiert vielleicht noch, aber das ändert sich, wenn der Kulleräugige größer wird. Ein Zwölfjähriger, der nicht nur gegenüber allen Kindern, sondern auch allen anwesenden Erwachsenen alles besser zu wissen scheint, nervt nur noch.

Schulpsychologische Begutachtung bereits in der Grundschule, Psychologenkonsultationen, Sozialkompetenztrainings…wir haben alles gemacht. „Sie müssen ihm klaren Grenzen aufzeigen!“, „Ihr Junge verweigert Regeln! Sie müssen als Eltern dort konsequenter sein!“. Haben wir, waren wir, versuchten wir.

Er wurde größer und älter und die Umwelt nahm immer mehr Abstand von ihm. Für uns war er und ist er aber nach wie vor unser lieber, fröhlicher Junge, an dem einfach NICHTS auszusetzen ist. Klar haben wir unsere Reibereien und die nehmen auch mit dem Alter immer mehr zu. Aber meine Grundhaltung ist eine zutiefst subjektive! Und das macht alles umso schwerer. Alles, das heißt, zu sehen, was dort wirklich ist. Ich sehe doch ein anderes Bild von meinem Kind als alle anderen! Und weil er mein erstes ist, ist er auch mein „Normalnull“. Ich kann ja nicht vergleichen und sagen: „Hm, also bei dem und dem war das aber anders!“.

Mittlerweile ist die Diagnose klar: Autismusspektrumstörung (Asperger Syndrom) und ADHS. Manches ist durch die Diagnose leichter, manches schwerer.

Es gibt an ihm Besonderheiten, mit denen gebe ich gerne an. Darf ich?

Es war unglaublich, ihm zuzusehen, wie er Lego baute. Also nicht so spielerisch wie bei anderen Kindern, das hat ihn nie gereizt. Angefixt war er immer nur von einem GROßEN Karton, zugeschweißt. Am besten für Jugendliche, extrakompliziert. Dann blieb mir der Mund offen! Ein Blick auf die Bauanleitung (die oftmals so dick wie ein Lustiges Taschenbuch war) und dann hat er das Lego-Bagger-Irgendwas aus dem Kopf zusammengebaut. In einem Affenzahn! Mit Mechanik/Hydraulik, was auch immer dabei war. Er liebte das. Und ich das Zusehen.

Als er eine Zeit lang in einer Klinik war, kam er samstags alleine vom Bahnhof mit der Straßenbahn. Die haben da so ein Straßenbahn-Fernsehen. In den sechs Minuten, die die Bahn brauchte bis zu uns, hat er die Nachrichten in dem Straßenbahn-Fernseher gelesen und mir dann daheim wortwörtlich wiedergegeben. Spart die Tageszeitung! Gedichte, Lieder, einmal gelesen/gehört kann er auswendig. Das langweilt manchmal, weil er zu Filmnacherzählungen neigt, die dauern manchmal länger als der Spielfilm selber, weil JEDES Detail erwähnt werden muss. Gähn!

Nur. Aber. Es nützt ihm im Alltag nichts. Er ist klug. Mit Attest klug. IQ irgendwas zwischen Null und Einstein. Physik, Mathe langweilen ihn entsetzlich. Einserschüler mit Langeweile. Aber. Der Praxistransfer ist quasi unmöglich! Gespeichertes abrufbereites Wissen ohne Anwendungsbezug.

Für alltägliche Verrichtungen braucht er S-T-U-N-D-E-N. Schleifen binden: Ein Hasenohr, zweites Hasenohr. Länge der Hasenohren vergleichen. Noch mal neu machen, weil ein Hasenohr kürzer ist. Also ein Hasenohr, zwei Hasenohren. Überkreuzen, Schlaufe binden. Fest ziehen. Richtig fest. Ruckeln, ob´s auch richtig fest ist. Vergleichen, ob beide Schlaufen gleich lang sind. Eventuell noch mal von vorn… (Du, das fetzt, wenn du morgens los musst!).

Strukturen sind das A und O und werden leider auch da gesehen, wo gar keine sind („Wir essen Samstag IMMER Nudeln!“). Mein most wanted: Er lümmelt gelangweilt abends neben mir auf der Couch und ich sage, er möge doch schon duschen gehen, wenn ihm so langweilig ist. „Nein, ich gehe immer 20:10 Uhr duschen, jetzt ist es erst acht Minuten nach acht!“. Die Liste ist unendlich erweiterbar…

Mit Gleichaltrigen kommt er mittlerweile gar nicht mehr zu Rande, Freundschaften sind nicht möglich und ich verstehe da auch schmerzenden Herzens die ablehnenden Kinder. Schulalltag auf einer Regelschule ist nur möglich, weil wir Hilfe vom Jugendamt bekommen haben (Frau B., wenn sie das lesen: Ich liebe sie für alles, was sie für uns tun!) in Form eines Schulintegrationshelfers, der ihn begleitet und unterstützt.

Worauf ich aber eigentlich hinauswill: Dass manche seiner Verhaltensweisen skurril sind, war mir schon immer klar. Aber das ist mein Kind und mein erstes, mein Liebstes, meine gelebte Normalität. Ich nehme vieles gar nicht mehr als absurd oder speziell wahr, weil ich mich in den vierzehn Jahren des Zusammenlebens einfach den Besonderheiten und Bedürfnissen angepasst habe.

(Was war denn nun mit den Papieren, von denen sie am Anfang geschrieben hat?! Immer dieses Rumgeschwurbel! Nie kommt die off´n Punkt!)

Schwerbehindertenausweis beantragen. Hab ich gemacht. Widerspruch einlegen gegen Bescheid. Habe ich gemacht. Neuen Grad der Behinderung einklagen. Erledigt. Immer noch nicht optimal, wobei optimal bedeutet: vergleichsweise ähnlich. Also muss ich wieder neu schreiben. Pflegestufe beantragen („Machen sie das, das steht ihrem Sohn zu!“). Da kommt nächste Woche irgendwer, um uns zu begutachten! Das wird was werden… Und ich muss im Vorfeld ein Pflegetagebuch schreiben…ich kann das nicht. Das ist doch gar nicht messbar! Und für die behinderte Behindertenstelle wieder ein Pamphlet aufsetzen und schreiben, was er alles NICHT kann und warum ihm dies und das auch noch zusteht…ich will das nicht. Ich bin doch nicht wegen Betteln vorbestraft! Mir ist das soooo unangenehm! Und ich sehe doch auch vieles gar nicht mehr an ihm als behindert an. Und ich WILL das auch eigentlich gar nicht sehen. Ich bin seine Mami, ich will weiterträumen, dass sich das alles irgendwie verwächst und alles gut wird! Und wenn mir detaillgetreu die Unzulänglichkeiten meines Kindes und seine niedergeschriebene offensichtliche Lebensunfähigkeit an die Mutterbrust springen, dann liege ich heute Nacht wieder wach mit angstklopfendem Herz!

Aber ich muss. Weil es nicht um mich geht und auch nicht um meine Gefühle und Ängste. Er kann ja nicht für sich selber kämpfen, deshalb muss ich das soziale Netz und den doppelten Boden so dicht und sicher spinnen für ihn, wie es eben möglich ist. Ich habe zwar vor, ewig zu leben, aber irgendwann muss ich das Kind ja auch loslassen. Und er soll weich fallen, wenn er schon fallen muss…

Deshalb setze ich jetzt den Helm auf, schnalle mir die Knieschützer um und stürze mich in die Schlacht mit den Behörden.

Und ich werde dieses Scheißtagebuch führen und irgendwie dem Kind erklären können, was dieser Mensch da nächste Woche von uns will bei der Pflegebegutachtung (Wie? Keine Ahnung, mir wird was einfallen.).

Bis dahin ruht hier still der See.

Ich würde lieber weiter an dem lustigen Text „Die schönste Zeit des Jahres“ schreiben, aber der wird noch warten müssen.

Und ihr auch. Ich hoffe…Bleibt mir treu. Und Daumendrücken schadet bestimmt auch nicht.