Paul ist jetzt das dritte Jahr ein Teil unserer Familie.
Obwohl, Paul heißt gar nicht Paul und eigentlich ist er auch kein Teil unserer Familie, ja, noch nicht einmal ein Freund der Familie. Denn Paul wird dafür bezahlt, dass er tut was er tut. Und irgendwann wird er gehen. Einer anderen Familie das sein, was er jetzt für uns ist.
Angefangen hat alles vor mehr als zwei Jahren, als im Zuge der Diagnostik den behandelnden Ärzten klar war, unser Sohn kann aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur und seiner Einschränkungen nicht weiter auf einer Regelschule beschult werden. Sie hatten sieben Monate Zeit, ihn während dieses langen Krankenhausaufenthaltes zu beobachten in der Klinikschule, im Umgang mit den anderen Jugendlichen. Ohne Medikamente, mit Medikamenteneinfluss. Sie waren sich sicher.
Es folgte eine Odyssee an Beratungsterminen bei Ämtern und der Förderschule.
Die Förderschule sagte, sie könnten ein Kind mit seinen kognitiven Fähigkeiten nicht adäquat beschulen, er gehöre eigentlich auf ein Gymnasium! Dort könnte er allerdings aufgrund seiner Auffälligkeiten nicht problemlos integriert werden.
Als Lösungsvorschlag wurde ein Schulintegrationshelfer ins Spiel gebracht. Wir sagten zu.
Und während die Suche nach einer geeigneten Person lief, telefonierte ich die Gymnasien der Umgebung ab und ließ das Telefon bei der Bildungsagentur heißlaufen. Die Gymnasien im Umkreis hatten leider, leider alle keinen freien Platz. Schade! Tut uns leid! Und nein, also ein Kind mit Integrationshelfer könnten sie nicht aufnehmen, aus Brandschutzgründen, wissen sie? Weil, da müsste ja noch ein Stuhl ins Klassenzimmer gestellt werden, dafür haben wir keinen Platz. Das ist leider nicht gestattet, wir sind voll. Die Bildungsagentur meinte lapidar, natürlich hätte unser Sohn aufgrund seiner schulischen Fähigkeiten vom Gesetzgeber her ein Recht auf einen Platz auf einem Gymnasium, und ich könnte das gern einklagen, aber am Ende entscheiden die Direktoren der einzelnen Schulen über die Vergabe der freien Plätze und wenn sowieso nichts frei wäre, was soll man da machen!
Unser Sohn war zu diesem Zeitpunkt Schüler auf einer Mittelschule. Er blieb es.
Und dann kam Paul.
Ich bekam einen Anruf, man hätte einen Bewerber für die ausgeschriebene Stelle. Er wäre Mitte zwanzig, kein Sozialpädagoge, er käme aus einem Kindergarten, wo er mit autistischen Kindern gearbeitet hätte. Alle erfahrenen Integrationshelfer wären leider vollkommen ausgelastet, ob wir uns den jungen Mann wenigstens mal ansehen wöllten?Wir wollten.
Ich weiß nicht mehr, was ich für eine Vorstellung hatte, aber da saß dann auf einmal ein Klon von Meister Proper vor mir. In der tätowierten Version. Ein braungebrannter Hüne mit Hipster-Käppi auf der Glatze und bunten Riesenkopfhörern um den Hals. Ein Kerl wie ein Baum mit Pranken wie Klodeckeln und schrillen Youngster-Klamotten. Und einem offenen Blick aus großen neugierigen Kinderaugen.
Bingo!
Was Paul möglicherweise an Erfahrung fehlte, machte er vom ersten Tag an durch Begeisterung für seine Arbeit und einen spürbaren Willen wett, dem ihm anvertrauten Kind auf seinem Weg ins selbständige Leben zu helfen.
Vom Jugendamt (der Kostenträger dieser Maßnahme) waren zweiundzwanzig Wochenstunden bewilligt und diese Stunden wurden sinnvoll verteilt. In den Stunden, in denen es erwartungsweise Probleme geben kann aufgrund von Freiarbeit oder ähnlichem, ist er immer anwesend. Sitzt hinten in der Klasse, schreibt manchmal mit, hat die Klasse im Blick und seinen Klienten. Greift ein, wenn nötig, oder beobachtet und wertet bestimmte Situationen im Nachgang mit unserem Kind (und/oder mit uns) aus. Er begleitet ihn auf Exkursionen oder zum Praktikum, vermittelt, moderiert. Alles aber nur, wenn er merkt, das Kind schafft es nicht alleine. Sein Fokus besteht darin, ihn zu ermutigen, zu stärken, Lösungswege zu finden. In den jeweiligen Situationen.
(Zu Hause ist das die Aufgabe von uns Eltern, aber im Schulalltag kann das nicht von den Pädagogen geleistet werden, die Zeit fehlt einfach. Selbst wenn ein Schüler einen Integrationsstatus hat (das hat nichts mit dem Integrationshelfer zu tun, das ist ein vollkommen anderer Prozess und ein anderer Kostenträger), bedeutet das im Regelfall, dass der Schule durch die Bildungsagentur eine bestimmte Anzahl an zusätzlichen Wochenstunden genehmigt wird, die zur Förderung des Schülers verwendet werden können. In unserem Fall hätte das nie und nimmer gelangt, dazu sind die Schwierigkeiten zu komplex.)
Paul ist vom ersten Tag zu einem Teil der Klasse geworden. Das hat aber viel mit seiner Art auf die Lehrer zuzugehen zu tun. Sie sehen ihn als Bereicherung, als Hilfe, als Kollegen. Er hat einen guten Einfluss auf das Klassenklima. Aber da ist noch was anderes. Es hat was mit seinem Coolnessfaktor zu tun.
Stell dir einen seltsamen, nerd-igen Außenseiter vor, der in jeder Pause immer nur zu hören bekommt: „Hau ab, du Spast!“, „Verpiss dich, du Kloppi!“, und dergleichen mehr. Und dieser Junge kommt eines Tages (und alle darauffolgenden Tage) mit der coolsten Socke an, die man sich vorstellen kann. Einem Kerl mit Oberarmen wie deine Oberschenkel, einem Boarder, Beachvolleyballer. Einem Typen, der so aussieht, wie sich die ganzen Halbstarken gern selbst sehen. Und dieser Typ scheint den Außenseiter-Kloppi auch noch zu mögen, Job hin oder her. Das macht was mit den Jungs. Definitv! So hat er es geschafft im Laufe der letzten Jahre, die gruppendynamischen Strukturen zu analysieren und für unsere Zwecke zu nutzen. Er weiß, welche Kinder Multiplikatoren sind und hilft unserem Sohn sich zurechtzufinden in einer Welt, die dieser nie verstehen wird.
Bis Paul kam, ging unser Sohn einmal im Monat lustlos in eine „Kontaktgruppe“, wo er mit anderen autistischen Jugendlichen unter Anleitung einer Sozialpädagogin Alltagssituationen nachstellte und daran übte. Paul meinte dazu, Integration funktioniere nicht, in dem man Autisten mit Autisten in ein Zimmer setzt und ihnen sagt, wie das Leben funktioniert! Und jetzt gebe ich ihm recht.
So hat er zum Beispiel zwei Jungen ausgemacht, die zu den coolen Kids gehören und bei denen er ein hohes Maß an Sozialkompetenz vermutete und diese dazu gebracht, als Integrationspaten zu fungieren. Mit diesen Kids und unserem Sohn hat er eine „Abenteuergruppe“ gegründet und sie unternehmen Sachen zusammen oder sind im Wald Bogen schnitzen oder grillen zum Beispiel. Letztens haben sie draußen übernachtet (diese Aktivitäten laufen außerhalb der klassischen Schulintegration und wir bezahlen die Stunden über die Pflegestufe). Das sind herausfordernde Tage für unseren Sohn, in denen er sehr viel lernt. Wenngleich keine Freundschaften, wie wir uns das vielleicht vorstellen oder wünschen würden, daraus entstehen.
Heute habe ich bei Scoyo einen Artikel zum Thema gelesen und die Bedenken einer Mutter hinsichtlich der Integrationshilfe. Und ich hatte diese auch! Vollkommen unbegründet, wie sich in unserem Fall herausstellte. Bei dem ersten Elternabend nach Pauls „Dienstantritt“ habe ich mich hingestellt und wollte Aufklärung betreiben und wissen, ob jemand Fragen hat. Da stellte sich heraus, dass die Eltern annahmen, der Paul gehöre zur Schule! Die Kinder hätten so von ihm gesprochen, als sei er Teil des schulpädagogischen Konzeptes. Niemandem war klar, dass er tatsächlich nur für unser Kind da ist.
Wobei, das ist ja das Herausfordernde an der Arbeit eines Integrationshelfers. Dass er nicht nur jemandem hilft, sich in bestehende Strukturen zu integrieren, sondern auch die bestehenden Strukturen sanft dazu bewegt, sich zu öffnen um ein Zusammenwachsen zu ermöglichen. Das geht auch nur, wenn derjenige in diese Strukturen eintaucht. Und das Feedback, das die Kinder und deren Eltern an diesem Abend gaben, war eigentlich für mich der Beweis, dass es gut läuft.
Es läuft bis heute gut. Sehr gut sogar!
Wir haben ein offenes, ehrliches und herzliches Verhältnis. Und das mussten wir uns auch erarbeiten. Wenn so jemand in dein Leben tritt, dann tritt er in dein Leben (im besten Fall hat er saubere Schuhe an). Denn er wird zu einer Vertrauensperson deines Kindes, er erfährt Interna aus der Schule. Dein Kind vertraut ihm Sorgen, Nöte und möglicherweise Intimes aus der Familie an. Es kommen auch innerfamiliäre Konflikte zur Sprache. Das muss nicht sein, kann aber. Da hilft nur das Ablegen falscher Scham.
Auch die enge Zusammenarbeit mit dem Jugendamt war im ersten Moment befremdlich, aber am Ende sind wir alle (Eltern, Jugendamt als Kostenträger, der Integrationshelfer, die Schule) bemüht, ein gemeinsames Ziel zu erreichen: Dass unser Kind gut durch die Schulzeit kommt.
Und weiter denke ich auch nicht! Was weiß ich denn, was nach der zehnten Klasse ist. Der zwölften. Ich weiß es nicht. Ich denke und plane nur in ganz kleinen Schritten. Ein Jahr. Und dann das nächste.
Für das nächste Schuljahr ist die Integrationshilfe wieder im Umfang von zwanzig Wochenstunden bewilligt. Irgendwann muss das „ausgeschlichen“ werden, das ist der Integrationsauftrag. Davon sind wir noch weit entfernt. Wir haben es versucht, es ging nicht.
Und noch etwas anderes habe ich stets vor Augen: Paul ist der beste, der einzige Freund meines Sohnes. Was Paul sagt, was Paul macht, alles ist vorbildhaft und wahr und die einzig richtige Sicht auf die Dinge. Für unser Kind. Dass Paul nicht sein Freund ist, weiß der Junge, er „versteht“ es aber nicht, er „fühlt“ es anders. Er hat ja auch keinerlei Vergleich.
Aber eines Tages wird Paul gehen. Gehen müssen. Und unser Kind wird dann ohne ihn weitergehen müssen auf seinem Weg. Und er wird es können. Irgendwann. Davon bin ich überzeugt!
Bis dahin war für die Schuljahre die Integrationshilfe das beste und erfolgversprechendste Hilfsangebot, das wir bekommen haben. War Paul das Beste, das uns passieren konnte. ❤