“Ein Grundrecht auf Wissen”

Ich habe heute einen Artikel von Ulrike Baureithel beim Freitag gelesen, der in einer Passage einen Wissensträger zitierte mit dem Ausspruch, Paare hätten ein Grundrecht auf Wissen. Und zwar im Zusammenhang mit immer spezifischeren Tests in der Pränataldiagnostik. Es ging in diesem in seiner Vollumfänglichkeit wirklich lesenswerten Artikel nur absatzweise um die Pränataldiagnostik, aber mich beschäftigt gerade dieser Aspekt besonders.

Vorweg: Ich möchte den Fortschritt der Wissenschaft nicht schmähen oder gar verpönen, und doch frage ich mich: Sollte nicht bei aller Forschung und bei allem Bestreben nach Klarheit, Begreifen und Wissen die Frage im Fokus stehen: Wem nützt es? Und welche Tests auf welche erblich bedingten Krankheiten brauchen wir denn wirklich? Wenn es bald vorgeburtlich nachweisbar wäre, dass eine erhöhte Eintrittswahrscheinlichkeit für Mukoviszidose besteht oder Leukämie, sollte das transparent gemacht werden? Und dann? Dem Kind das Leben verwehren um ihm eine möglicherweise eintretende Krankheit zu ersparen?

Und ich frage mich zusätzlich: Was kann denn wirklich zweifelsfrei bewiesen werden? Bei diesen Testverfahren werden Parameter ausgelesen und mit allen dem heutigen Stand der Wissenschaft zur Verfügung stehenden Erkenntnissen abgeglichen. Und daraus dann ein Befund ausgelesen.

Sollte im Rahmen einer vorgeburtlichen Untersuchung ein positiver Befund auf eine tiefgreifende Erkrankung nachgewiesen werden, haben die werdenden Eltern schlussendlich die Entscheidung zu treffen, wie sie mit dieser Nachricht umgehen. Wer einmal in diesen Schuhen steckte, wird das nie wieder vergessen. Die Ohnmacht, die Hilflosigkeit und auch das Alleingelassenwerden. Denn:

„Die heute übliche humangenetische Beratung klammert Aspekte wie die Ausprägung einer Behinderung oder die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung ohnehin aus, das ist noch immer nicht Teil der medizinischen Ausbildung.“

Ich würde mir wünschen, dass daran gearbeitet wird. Dass das Wissen um genetische Veränderungen und deren Nachweis nur die eine Seite einer Medaille ist. Solange die Medinzin als einzige Option, die das „Wissen“ mit sich bringt, den Schwangerschaftsabbruch anzubieten hat, bezweifle ich, dass dieser Forschungsschwerpunkt einen humanitären Nutzen hat.

„Denn im Falle eines Befundes kann sich an den Test keine Therapie anschließen, die Schwangerschaft wird meist mit einem Abbruch beendet.“

Die Situation, vor der die Eltern dann stehen, ist in ihrer Schrecklichkeit kaum zu überbieten. Reden wir ja in den allermeisten Fällen von einer fortgeschrittenen Schwangerschaft mit Kindsbewegungen, einer Wiege daheim im Wohnzimmer, Hoffnungen und Plänen. Die Option, die die Ärzte anbieten, wird „medizinisch indizierter Spätabort“ genannt. Etwas anderes kann die Medizin nicht leisten. Nachweisen, dass das Kind möglicherweise eine schwerwiegende Behinderung hat und anbieten, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Zu beenden. Entscheiden müssen das die Eltern. Und sie sind es auch, die mit dieser Entscheidung leben müssen. Für den Rest ihres Lebens.

Möglicherweise. Das ist das Schlüsselwort. Denn kein Mediziner wird sich dazu hinreißen lassen, eine „garantierte“ Diagnose zu stellen. Es sind nur Tests. Und die haben eine Fehlerquote.

Ich kenne ein Paar, das nach einem unauffälligen Screening ein Mädchen mit einer Trisomie 21 bekam.

Und ich kenne eine Frau, bei der im sechsten Schwangerschaftsmonat eine frisch durchlaufene Rötelninfektion festgestellt wurde. Der jungen Frau wurde dringend zu einem Abbruch geraten. Das Kind sei im günstigsten Fall blind oder taubstumm, im ungünstigsten Fall blind, taubstumm und geistig behindert. Sie konnte sich nicht durchringen und forderte weitere Tests. Es wurde durch die Bauchdecke der Mutter vom Kind Blut abgenommen und auch beim Fötus der erhöhte Rötelntiter festgestellt. Dieser invasive Eingriff setzte schlussendlich Wehen in Gang. Mariechen, so nannte die junge Frau ihr Kind, kam in der achtundzwanzigsten Woche tot zur Welt. Die Autopsie ergab „Keine Anzeichen auf Röteln-Embryopathie oder Röteln-Fetopathie“. Keine.

Als ich mit dreiundvierzig schwanger wurde, war mir persönlich klar, ich kann so eine Entscheidung niemals treffen. Ich will nicht nur nicht, ich kann es nicht. Keine Tests! Beim Ultraschall war das Stupsnäschen und ein verkürzter Oberschenkel Thema. Manchmal ist ein Stupsnäschen aber einfach nur ein Stupsnäschen und ein kurzes Bein ein kurzes Bein… Wir haben zwei gesunde Kinder.

Mariechen wäre im März diesen Jahres dreiundzwanzig Jahre alt. Ihre Mutter hat nie aufgehört, an sie zu denken.

 

Alle Zitate sind dem Artikel von Ulrike Baureithel „Sicherheit ist längst nicht alles“, erschienen am 23.02.2015 bei „Der Freitag“, entnommen.