In unserer Familie werden Ironie und Sarkasmus – bedingt durch die spezifische neurologische Datenverarbeitung der Früchtchen – nur von dem Bärtigen und mir verstanden. Das wiederum ermöglich uns zwei alten Silberrücken, auch vor den Kindern Bemerkungen zu machen, die nur wir zwei verstehen, also wirklich verstehen!
Ein nahezu geflügeltes Wort ist dabei geworden: „Das wird mir fehlen!“.
Hintergrund ist, dass wir zwei Alten in Momenten, bei denen uns die Laune und die Geduldsfäden in den Kniekehlen hängen, uns oft vorrechnen, wie lange noch, bis wir uns nur noch um uns kümmern müssen. Acht Jahre? Zehn? Zwanzig?! Und dann malen wir uns aus, wie schön unsere harmonischen Tage sein werden. Was wir alles tun werden, beziehungsweise nie wieder tun werden!
Neulich besprach der Bärtige abends beim Bier mit einem seiner Freunde die Gesamtlage der Nation und das Eheleben. Der Freund meinte etwas larmoyant, er wäre müde von diesem Familiending und schon seit zeeeeehn Jahren sei er jetzt in dem Game und ach. Mein Mann fiel fast vom Stuhl. Seit dreiundzwanzig Jahren hockt er auf Spielplätzen, im Schwimmbad, der Tobehalle, auf Elternabenden, „Ihr Kind hat…!“. Seit dreiundzwanzig Jahren Ärsche abputzen, die nicht sein eigener sind, Kinderarzt, Rummelplatz, geordnete Mahlzeiten nach festgelegtem Zeitplan, Ferienbespaßung. Nicht zu sprechen von den extra Haaren, die er unterwegs verloren hat, weil beide Söhne eine Schwerbehinderung haben und deswegen noch mal mehr Tamtam auf die Liste kommt. Die zerfledderte Liste, die wir irgendwann mal weglegen wollen. Uns nur um unsere Bedürfnisse kümmern wollen ohne überhaupt noch ein Gespür dafür zu haben, was das denn sein könnte. Uns inbrünstig den Tag herbeisehen, an dem die Kinder in die Welt marschieren und ihr Ding machen, einfach so. Ohne uns.
„Das wird mir fehlen!“, seufze ich meist bei den idyllischen Abendessen im Kreise meiner Familie. Man kennt das ja: Mama Miracoli sitzt mit Papa Miracoli und den süßen Absenkern der Miracoli-Familie am reichlich gedeckten Tisch, die güldene Abendsonne bescheint das friedliche Bild. Nur, dass bei uns alle durcheinanderreden, streiten, diskutieren, das mir die Ohren klingeln, Zeug umwerfen, Mama Miracoli permanent aufstehen muss um andere Löffel zu holen, weil Joghurt nur mit einem ganz bestimmten Plastiklöffelchen gegessen werden kann (der schmeckt sonst nicht, der Joghurt). Das wird mir fehlen!
Gemecker, Gemotze, schlaflose Nächte, Hintern abputzen, Kinderarztbesuche, Zoo, Jahrmarkt, Elternabende, Spielplätze, Schwimmbad. Das wird mir fehlen! Melonenkerne rauspulen, Zähne nachputzen, Knie flicken, Streit schlichten, das wird mir fehlen.
Ich freue mich auf Abendessen, bei denen ruhig und genüsslich gespeist wird und man sich gegenseitig wertschätzend von seinem Tag berichtet und das Essen lobt. Mehr nicht!
Immer, wenn mal der Großsohn aushäusig ist, merken wir, wie entzerrt solche anstrengenden Situation sind. Die Kinder befinden sich trotz des Altersunterschiedes von dreizehn Jahren in einem Wettstreit und Konkurrenzkampf. Ist das normal? Das ist nicht normal. „In seinem Alter durfte ich nicht so lange an den Gameboy!“, ist dabei nur ein Beispiel. „Ich musste immer alles probieren und meinen Teller aufessen!“, „Wenn ich so frech gewesen wäre wie du, hätte ich Riesenärger bekommen!“, „Das ist alles so ungerecht!“. Ja, Junge, deine Kindheit war die härteste überhaupt! Beim Essen habe ich Sheldon Cooper am Tisch sitzen, der bei jeder Erzählung seines kleinen Bruders: „Hä?! Das ist doch unlogisch!“, einwirft und Grundsatzdiskussionen beim Essen abhalten will.
In anderthalb bis zwei Jahren spätestens, so planen wir, wird der Große ausziehen. Er will, er muss, und wir werden das natürlich engmaschig betreuen, ihm assistieren und ansonsten auch nicht sehr weit weg sein. Ein paar Meter halt, aber immerhin! Ich freue mich darauf, wirklich. Ich liebe den jungen Mann wirklich und ich spüre nach wie vor die Verbundenheit zwischen uns, aber die Nabelschnur wird immer länger, und dünner.
Und das ist gut so! Für unsere Beziehung ist es immens wichtig, wenn wir etwas Raum zwischen uns bringen. Auch zwischen den Bärtigen und sein Erstlingswerk. Der weiß alles besser! Das kannst du dir nicht ausdenken, und ich lache auch gar nicht, wenn ich „The big bang theory“ schaue und Sheldon Cooper seinen Freunden die Nerven fiedelt, ich kenne das viel zu gut aus eigenem Erleben. „Das kann nicht sein! Das ist total unlogisch!“, viel gesprochene Sätze aus einem bestimmten Mund im Hause Nieselpriem. Außerdem weiß der junge Mann alles besser, das ist einfach so. Frag Sheldon Cooper, der versteht das!
Er war ein schrulliges und eigenartiges Kind, aber nun ist er ein schrulliger und eigenartiger junger Mann, und das muss er allein schaffen, sich damit der Welt zu stellen. Und seinen Eigenarten im allgemeinen Lebenskontext der Neurotypischen. Das schafft der, ich bin überzeugt davon. Mehr als wir das getan haben, kann man ein Kind im Spektrum nicht vorbereiten auf das Leben hinter der Glasscheibe. Er wird im Juli dreiundzwanzig Jahre alt, es wird Zeit für ihn. Und für mich. ich werde nie weiter weg sein als ein Anruf und ein: „Ich komme, kein Problem!“, und der Bärtige ebenso.
Allerdings wird mir neuerdings immer wieder klar, wie eingeschränkt er ist, der junge Mann. Bestimmte Plausibilitätschecks, die bei uns neurotypischen Menschen ab einem gewissen Alter ganz von alleine im Gehirn ablaufen, sind bei ihm systemisch nicht vorgesehen. Außerdem glaubt er (noch) immer, was ihm sein gegenüber sagt. Bedenkenlos. Lügen kann er nicht nur nicht, ihm scheint für Unwahrheit jegliches Grundverständnis zu fehlen. Und für Absurdes auch.
Beispiel gefällig? Seit einem Jahr lernt der Bubi für die Fahrschule. Diese dreitausend Fragen in einer App hat er bestimmt schon dreimal beantwortet. Er würde auch immer weiter immer wieder diese Fragen in dieser App beantworten und damit kein Ende finden und sich vermutlich niemals für die Prüfung anmelden, wenn wir Eltern nicht gesagt hätten, es reiche jetzt, er solle sich doch nun mal um einen Prüfungstermin kümmern! Das sagten wir dann nur noch circa vierundzwanzig Mal und erklärten, es reiche nicht, bei der Fahrschule anzurufen und dem Anrufbeantworter zu erzählen, er wöllte nun die Fahrschulprüfung absolvieren! Die rufen dich nicht zurück, Junge, du willst doch was von denen! Versteh doch…
Und nun, pass auf. Vorgestern kam der junge Mann – breit wie ein Kleiderschrank, fröhliches Kinderlachen im hübschen Kindergesicht – nach Hause und spricht: „Mutter, stell dir vor, ich habe einen Termin für die mündliche Prüfung! Übermorgen! In Osnabrück!“. „In…wo?!“, „In Osnabrück, das hat die Frau gesagt!“. „Ganz sicher hast du keinen Termin in Osnabrück! Weißt du überhaupt, wo das ist? Das ist am anderen Ende von Deutschland! Das kann doch nicht stimmen, du hast dich sicher verhört!“. „Nein, hab ich nicht. Und wenn die Frau sagt, ich habe fünfzehn Uhr dreißig am Mittwoch die Prüfung in Osnabrück, dann ist das auch so! Du kannst das doch gar nicht wissen, du warst nicht dabei!“.
Atmen, Rike, atmen. Mit einem auf unerklärliche Weise gefunden Rest an Engelsgeduld habe ich erwirken können, dass der junge Mann noch mal angerufen und nachgefragt hat, und: „Osnabrück“ entpuppte sich als: „Nossener Brücke“, in Dresden, wie von mir vermutet. Weil, da wohnen wir, in Dresden, da ist die Fahrschule, alles andere wäre unlogisch. Für mich zumindest! Nicht für meinen Sohn. Läppischer Unterschied von sechshundert Kilometern, aber wer guckt schon so genau. Schließlich hat die Frau am Telefon ja gesagt, die Prüfung wäre in Osnabrück!
Und überhaupt befinde ich mich seit über zwanzig Jahren in einem Dienstleistungsverhältnis, bei dessen Vertragsschluss ich wahrscheinlich mental umnachtet gewesen bin. Immer, wenn: „Mama!“, ertönt, eile ich herzu und frage, womit ich denn behilflich sein könne. Der Mann sagt, seit wann käme denn der Keks zum Krümel, und wenn irgendwer etwas wöllte, solle er es doch mit seiner Anfrage bitteschön bis zur Schwelle des Zimmers schaffen, wo der um Hilfe Ersuchte sich befindet. Nun, der Keks kommt zum Krümel, zumindest bei uns, denn ich bin der verdammte Keks.
Das wird mir fehlen. Oh, wie wird mir das fehlen!
Ich werde aus dem Fenster gucken nach meinen Söhnen, werde in Jogginghosen mit Telkoblazer obendrüber und Headset auf den zerzausten Haaren im Homeoffice aus dem Fenster starren. Ich werde an alten Schmusetüchern der Jungs schnüffeln, die Fotoalben vollheulen und mich verdächtig auf Spielplätzen rumdrücken um anderleuts Kindlein anzuschmachten. Weil mir das so fehlt! Mir ist einfach nicht zu helfen.
Dann kommt der Keks nicht mehr zum Krümel, dann kommt nur noch der Berg zum Prophet, nämlich, wenn anstatt: „Mama!“, „Rike!“, vom Bärtigen durchs leere Haus gebrüllt wird.
Update: Der Bubi hat die mündliche Fahrschulprüfung mit null Fehlern bestanden. Jetzt dauert es nur noch circa fünf bis zehn Jahre, bis er eventuell den Führerschein besitzt. Wir wissen ja, wie das bei Sheldon Cooper so läuft…