„Einmal dasselbe, aber anders, bitte!“

Das Blondchen ist mittlerweile in seinem neunten Lebensjahr angekommen, in der zweiten Klasse der Grundschule, in allerhand Abenteuern und jeder Menge Ärger…

Das holde Jünglein mit dem güldenen Haar, das zweite Blümchen aus dem Garten, den der Bärtige und ich vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren angelegt haben, wächst, reckt sich, bildet Dornen und wilde Blüten aus. Wenn wir die florale Metapher mal noch ein bisschen weiter strapazieren wollen: er sieht für manche Menschen aus wie ein wildes Unkraut, ein Busch, der zurechtgestutzt gehört, eine Distel, ein Löwenzahn. Also bei uns früher hat es das nicht gegeben!

Für mich ist er – wenn schon Unkraut – eine leuchtende Mohnblume. Ein zarter Stängel, zerbrechlich fast, ein großer Kopf, leuchtend, Alarm Alarm!, auffallend in jedem Beet, auf jeder Wiese, möglicherweise gefährlich, zart, weich, wunderschön und wild. Mohn wächst, wo er will und niemals dort, wo er soll.

Dieses Mohnblumenkind wird zum Schuljahresende die Schule wechseln müssen und das kam so:

Wer hier länger mitliest weiß, dass auch dieses Kind zu auffälligem Verhalten neigt, was für uns Eltern quasi bedeutet, alles wie immer! Kennen wir schon! Hatten wir schon mal! Prinzipiell sind die Eigenarten wirklich nahezu identisch zwischen den Söhnen. Klar, ich finde jede Menge Unterschiede, der eine blond, der andere dunkelhaarig, der eine sportlich, der andere schlaksig, der eine stets bemüht, zu gefallen um jeden Preis, dem anderen ist die Meinung anderer Menschen über seine Person vollkommen wurscht. Der eine neigte früher immer zum Opfersein, wurde gehänselt, seine Sachen oder er selbst mitsamt seiner Sachen landeten oft im Papiercontainer vor der Schule. Der andere läuft mit geballten Fäusten durch sein Leben und boxt sich durch, im wahrsten Sinne des Wortes. Beide haben sie eine nachgewiesene Höherbegabung, der eine im sprachlichen Bereich, der andere im mathematisch-logischen. Und dennoch, es ist ein bisschen wie in einem Zerrspiegel, so ähnlich sind die Seltsamkeiten in ihrem Verhalten.

Anders ist dieses Mal, dass wir Eltern ja nun schon prozesserprobt sind. Anders ist auch, dass im Jahr 2022 der behördliche Dschungel und der Zugang zu Hilfen und Information deutlich barrierefreier sind. Allerdings ist alles noch immer ein unfassbar schwurbeliger und komplexer Prüfungsdiagnostikbewertungsdingsbumshierunddaundnochmalvonvorn- Prozess.

Alles begann bei uns vor zwei Jahren. Da hatte ich noch ein Kindergartenkind mit Integrationsstatus. Heute nun, zwei Jahre später, liegen endlich alle Befunde, alle Gutachten und ein rechtskräftiger Bescheid vor. Bis dahin wurde das Kind von vier verschiedenen Amtspersonen (Sozialamt, Jugendamt, Kinder-und-Jugendpsychiatrie, jemand von der Schulbehörde) hospitiert im natürlichen Habitat eines jeden Schulkindes, wir waren bei unzähligen Gesprächen, die alle immer gleich abliefen: „Beschreiben sie die Schwangerschaft! War [hier Name des betreffenden Kindes einfügen] ein Wunschkind? Wie war das erste Lebensjahr? Wann hat er die ersten Worte gesprochen?…“, haben aufgrund der Annahme, es läge ganz klar auch wieder eine Autismusspektrumstörung vor, insgesamt zweimal den wirklich umfangreichen Diagnostikteil durchgemacht. Einmal bei der Autismusambulanz und dann noch einmal bei der KJP, die dann alles andere diagnostizieren durfte, außer einer Autismusspektrumstörung! Das wurde dann auch gleich anfangs geklärt, dass wir darüber nicht mehr sprechen und jaja, jeder Mensch habe autistische Anteile und nein, wir schauen jetzt nur auf alle anderen Auffälligkeiten, weil die unfehlbaren Koryphäen in diesem Thema haben ja nach eingängigem Streitgespräch darüber, ob das Blondchen ein ASS-ler sei, sich dann dagegen entschieden, denn das Kind zeige doch schon deutlich Kommunikationswillen und könne Blickkontakt halten (was mich sehr überrascht hat, denn bislang war mir das gar nicht aufgefallen, dass der Blickkontakt halten kann, aber ich kenn den eben auch nicht so gut)! Jedenfalls, es dauerte. Mo-na-te-lang hatten wir in der Regel zwei Termine pro Woche, wo das Kind auf dem Prüfstand stand oder wir Eltern die immergleichen Fragen beantwortet haben. Wo Blut angenommen, ein EEG geschrieben, ein Motoriktest, ein Intelligenztest, ein Konzentrationstest, eine Familiendiagnostik, ein Dings und ein Bums gemacht wurden. Und alles doppelt, weil wir haben das ja zweimal machen dürfen…

Dann, endlich, waren wir damit durch und das Kind hat nun zwei Diagnosen. „Diagnosen sind Urteile!“, nölt der Volksmund, ich habe das anders erlebt. Diagnosen sind Schutzschilder, die du vor dein sonderbares Kind halten kannst, fertig! Wenn mal wieder jemand zu mir kommt mit den Worten: „IST DAS IHR KIND, DAS DA GERADE…!“, kann ich sagen, ja, ist es, es kann nichts dafür, es hat einen Zettel, wo das draufsteht. Klingt jetzt lustig und so, als ob ich den alleine irgendwo rumrandalieren ließe, während ich auf der Bank mit einem koffeinhaltigen Getränk säße, never ever, wir kommen noch darauf zurück.

Man braucht mindestens ein belastbares „F. irgendwas“, um eine Integrationshilfe, einen Schulbegleiter genehmigt zu bekommen. Und einen Nachteilsausgleich auch, wenn das beim Schulalltag helfen könnte.

Nahezu die gesamte Zeit sind wir vom Jugendamt betreut worden. Das Jugendamt ist auch die Stelle (zumindest in Sachsen), die die Hilfen wie einen Schulintegrationshelfer bezahlt am Ende. Durch den Bubi und nun auch wegen dem Blondino arbeiten wir seit mittlerweile zehn Jahren mit dem Jugendamt zusammen, zwei verschiedene Ämter, drei verschiedene Personen. Ich hätte gerade während der letzten sechs Monate manchmal das Handtuch hingeschmissen, wenn ich nicht eine kämpferische, zuversichtliche und super engagierte Betreuerin vom Jugendamt an meiner Seite gewusst hätte! Bei allem, was man sonst so hört („Das Jugendamt hat mir die Kinder weggenommen!“; RTL2 lässt grüßen) sag ich dir, wenn du einen Partner brauchst und Hilfe für dein Kind und gar nicht weißt, wo du zuerst hingehen sollst, geh zuerst zum Jugendamt! Die kennen sich aus, die sagen dir, welche Schritte als nächstes gegangen werden müssen. Dort bekommst du Hilfe oder zumindest einen Fahrplan.

Dank des Engagements dieser Betreuerin hat das blonde Jünglein nun seit einiger Zeit nicht nur eine Schulintegrationshelferin, sondern auch eine Hortintegrationshelferin. Insgesamt bekommt der Blonde von morgens acht Uhr bis Nachmittag um drei Unterstützung an die Seite, und zwar Montag bis Freitag! Das ist nicht nur super umfangreich und super teuer, leider ist es auch super notwendig.

Dennoch nehmen die Probleme leider nicht ab. „Ihr Kind hat…“-Anrufe, „Ihr Kind hat…“-Gespräche beim Abholen, Anrufe, dass das Kind eher abgeholt werden müsste, weil Gefahr für sich selbst und andere bestünde, Elterngespräche, bei denen uns erzählt wurde, die Eltern würden mobil machen gegen unser Kind. Ja, doch! Kindern wurde der Umgang verboten mit unserem Kind.

Ich bin da wie Teflon. Kurz schütteln, dann gehts wieder. Also, wenn es nur mich betrifft. Aber wenn ich merke, dass das an meinen Sohn selbst herangetragen wird, er abgelehnt und vor allem abgewertet wird, dann steppt meine innere Lucy! Und das ich-muss-mein-Kind-beschützen-Protokoll fährt hoch, code red.

Jetzt muss ich dazu sagen, an einer Privatschule erlebt man mitunter so Eltern, die meinen, mit dem Schulgeld auch gleich die Schule und vor allem die Lehrer mitgekauft zu haben, und die produzieren sich dann entsprechend. Und wenn dann das Fortpflänzchen mal nicht so tut, wie es soll und nicht so performt wie erwartet, wird der Fehler außen gesucht, zum Beispiel bei dem Verrückten in der Klasse! Weil, der stört ja immer alle und wegen dem ist dieses nicht möglich und jenes schwierig! Der ist schuld, sonennklar.

Ich verstehe das. Ja, ich kann das verstehen! Ich habe mir eine Erinnerung bewahrt, die ist schon fast zwanzig Jahre alt. Damals war der Bubi als „normales“, also neurotypisches, Kind in einer integrativen Kindergartengruppe und dort war auch ein Mädchen mit Mehrfachbehinderung, nennen wir sie mal Paula. Paula war ein fröhliches Kind mit einer Menge Handicaps und die Erzieherinnen bemühten sich nach Kräften, den Alltag so inklusiv wie möglich zu gestalten, damit Paula mit den anderen Kindern in der Regelkita bleiben konnte und nicht in einer Einrichtung für „Menschen mit Behinderung“ untergebracht werden muss. Nun ist eine Gemeinschaft nur so stark wie ihr schwächstes Glied, und ich sehe mich bei einem Elternabend zwischen meckernden Eltern, die maulten, es wäre alles so ungerecht! Immer geht es nur nach Paula! Wo bleiben die Bedürfnisse unserer Kinder! Nie macht ihr einen Ausflug! Unsere Gruppe geht als einzige nie in den Zoo, nie in den Park, nie macht ihr irgendwas Schönes! Alles wegen Paula! Ich war eine von ihnen.

Diese Begebenheit habe ich mir bewahrt, weil sie wichtig ist! Wir alle treffen unsere Entscheidungen aus Liebe, wir alle wollen das Beste für unsere Kinder. Wir alle stehen dort, wo wir stehen aufgrund der Erfahrungen, die wir gemacht haben, und das sind ganz unterschiedliche. Jetzt und heute bin ich die Mutter von Paula. Damals nicht.

Und als diese Mutter folge ich zusammen mit dem Bärtigen der Empfehlung des sonderpädagogischen Gutachtens und ab September wird das Blondchen eine Förderschule besuchen, eine Schule für Kinder wie ihn. Mit einem besonderen Rahmen, in einer klitzekleinen Klasse.

Das war schwer für mich. Ich habe mich auch gefragt, was das bedeutet. Ich habe alles Mögliche möglich gemacht, wir sind doch Inklusionsexperten! Wir haben es doch schon mal unter super widrigen Umständen bravourös hingekriegt! Aber. Aber damals war es ein anderes Kind, es war die Oberstufe, nicht die Grundschule, es gab den Paul, alles war anders. Ich musste jetzt verstehen lernen, dass Inklusion ein diffiziles Unterfangen ist, bei dem so viele Menschen „mitmachen“ müssen, bei dem so viele Faktoren stimmen müssen, dass es eigentlich ein Vabanquespiel bleiben muss. Rumgemenschel, infrastrukturelle Engpässe in den Schulen, zu wenig Aufklärung, zu wenig Briefing und Unterstützung der Lehrer („So, bitte, hier ist jetzt der Integrationshelfer für A. Der braucht einen Platz in ihrem Klassenzimmer!“), Inklusion als Menschenrecht, aber ohne die Bedingungen wirklich zu schaffen, die es braucht mitunter, kann nur holprig werden. Mitunter klappt das alles ganz wunderbar, wir haben das ja selber erleben dürfen, jetzt müssen wir hier die Reißleine ziehen. Vorerst.

„Sie haben das Ende der Inklusion erreicht, alle aussteigen!“

Ab September also dann Behindertenfahrdienst anstatt SUV-Schubsen auf dem Elternparkplatz der tollsten Schule der Stadt.

Ich bin immer noch ein großer Fan dieser Schule, ich habe ganz wunderbare Menschen kennengelernt, nicht jeder hat meinen Sohn „asozialer Rüpel“ geschimpft, nur wenige. Ich hoffe, das wird gut werden. Wir alle treffen unsere Entscheidungen aus Liebe. Ich will, dass das Kind an einem Ort lernen kann und Lernen lernen, wo man seine Fähigkeiten sieht und fördert, wo nicht immer nur sein Verhalten thematisiert wird, als wäre er nichts weiter als „das Kind, das immer Ärger macht“. Das ist er nicht.

Er ist feinfühlig und trampelig, er ist lustig und zornig, er brüllt Schimpfworte, wenn er sich freut, genauso, wenn er sauer ist, einfach immer, wenn er aufgeregt ist. „Los, du furzender Affenpimmel!“ zu einem potentiellen neuen Freund zu sagen als Antwort auf eine Spieleinladung funktioniert nicht und beendet die zarte Freundschaft unter Umständen sofort, aber das wird er lernen. Vielleicht muss ich eines Tages nicht mehr jeden Spielplatzbesuch begleiten oder Zeiten auswählen, zu denen dort eh niemand spielt, damit wir nicht so auffallen. Wahrscheinlich ist es aber nicht. Alles wie immer.

Neulich fragte mich eine Freundin mitfühlend, wie das so sei, mit zweien von der Sorte. Ich konnte nur sagen: „Normal!“, weil es das ja ist. Ich weiß nicht, wie andere Eltern mit ihren Kindern leben, ich kenne nur meine Kinder und die sind ganz offensichtlich so wie sie sind, ein wenig seltsam eben. Dann dachte ich noch, dass es schon gut ist so, denn wenn eines meiner Kinder eingeschränkt wäre und das andere nicht, fiele dann nicht die Einschränkung umso mehr auf und käme man nicht automatisch in die Verlegenheit, das Kind ohne Einschränkung besonders zu loben für Dinge, die es kann und das andere überhaupt nicht fertigbringen kann, egal, wie es sich abmüht?

Manchmal sticht es mir im Herz, wenn die Frisörin zum Beispiel an meinen Haaren rumfummelt und dabei erzählt, ihr achtjähriger Sohn käme kaum noch zum Abendessen heim, weil er nach der Schule selbständig zum Fußball gehe und danach oft noch zu einem Freund und dort essen würde und am Wochenende übernachtet er entweder bei der Oma oder bei einem Freund. Ich kenne nichts von alledem.

Aber ich kenne dafür einen wilden blonden Hitzkopf, der neuerdings einen Schneckenzoo bewirtschaftet und ein fürsorglicher Tierpfleger für Gary, Brian, Henry und June ist. Der zum Entspannen nur eine lange Autofahrt braucht und Klangkarussell im Radio dazu, alle Komponenten auf dem Teller einzeln essen wird bis zum Sanktnimmerleinstag, in sechs Tagen dreiundachtzig Pokemons abgepaust, ausgemalt, ausgeschnitten, eingeklebt und somit sein eigenes Pokedex gebastelt hat. Und die besten Liebesbriefe aller Zeiten schreibt.

Fußball, Oma, alleine nach hause gehen, pff…