Ich habe geträumt.
Ich war mit dem Großen bei der Autismusambulanz zu einem Termin. Den Blondino hatte ich auf dem Arm. Dort war eine Garderobe (die sonst nicht da steht) und es lagen in einem liederlichen Haufen überall verstreut Schuhe von mir. Ich fragte mich entsetzt, wie meine Schuhe dahin kämen und versuchte, sie in meiner winzigen Handtasche zu verstauen. Das ging nicht. Ich stopfte. Peinlich berührt und mit Angst erfüllt, irgendwer könnte kommen und das Chaos dort so sehen. Zu guter Letzt beschloss ich, die herumliegenden Stiefel anzuziehen und zu versuchen, die anderen Schuhe irgendwie in meine Taschen zu stopfen. Die Stiefel waren allerdings von jemand anderem ausgetreten worden und mein Fuß fand nicht das gewohnte Fußbett. Ich war verwirrt und irritiert.
Später dann verließen wir die Ambulanz und auf einmal war der große Sohn verschwunden. Ich suchte ihn und ging in eine Kneipe um nachzuschauen. Dort, inmitten fremder Leute, saß er an einem Tisch und blätterte seelenruhig in der Speisekarte. Ich forderte ihn auf, mitzukommen. Er aber teilte mir mit, dass er jetzt Hunger hätte und deshalb hier speisen würde. Im Übrigen habe er schon bestellt und ich möge doch bitte mit seinem Bruder draußen auf ihn warten. Ich erwiderte, das würde ich nicht tun, er solle mitkommen oder dann alleine mit der Bahn nach Hause fahren. Er folgte mir daraufhin laut zeternd nach draußen und machte mir eine wüste Szene. Ich würde ihm nicht mal was zu Essen gönnen und er habe Hunger und nie würde ich mich um ihn kümmern!
An der Stelle wurde ich wach und dachte: Komisch. Das mit den Schuhen ist seltsam. Was mag das bedeuten? Dass ich meine Schuhschränke aufräumen soll?
Der Rest des Traumes ist überhaupt nicht seltsam und sehr nah dran am Vorstellbaren.
Wenn ich gefragt werde, wie das denn so ist mit unserem Sohn, sage ich meistens: „Anspruchsvoll!“. Ich habe ja schon an mehreren Stellen hier über das Zusammenleben geschrieben und ein bisschen von den Schwierigkeiten. Wobei, niemals und auch jetzt nicht werde ich detailliert beschreiben, was er so tut und sagt. Und mit welchen Situationen wir es hier zu tun bekommen.
Nur so viel kann man getrost sagen: Es ist „für fortgeschrittene Eltern“, das Kind.
Nächste Woche wird er fünfzehn und ich kann mich an kaum eine Woche unseres gemeinsamen Lebens erinnern, in der ich nicht täglich siebzig Prozent meiner Aufmerksamkeit bei ihm gehabt hätte. Weil er das braucht. Die Codes nicht versteht, die das Zusammenleben mit anderen Menschen beschreiben. Ich bin der Decodierer. Er sieht nur sich. Nur seine Bedürfnisse und auch da nur die Momentaufnahme. Das hat nichts mit Egozentrik zu tun! Ihm fehlt das Verständnis, dass er Teil eines Systems ist von Menschen mit ebenfalls Bedürfnissen. Und all das, was jedem von uns in Fleisch und Blut liegt und was wir empathisches Verhalten nennen, ist eine unverständliche Fremdsprache für den Jungen.
Dazu kommen noch Effekte, die ihm und uns das Leben erschweren. Er ist extrem geräuschempfindlich, trommelt, klopft, tippt, wippt und redet aber selbst ununterbrochen. Er spricht den ganzen Tag. Laut, schnell und in einer detailverliebten Art und Weise über Themen, die außer ihn niemanden interessieren. Er möchte sich auch gar nicht unterhalten, er will nur reden (das hat er mal gesagt). Nie macht er Dinge, die wir ihm auftragen, weil wir es sagen. Es muss alles durchdiskutiert werden. Warum macht man das? Und warum soll ich das machen? Und warum jetzt? Nein, ich mach das dann später. Oder gar nicht. Und das mach ich jetzt, auch wenn ich nicht soll. Ich soll das nicht anfassen? Aber warum denn, ich fass das erst mal an und krieg raus, was die Eltern denn haben, muss ja was ganz Dolles sein…
Er bringt mich auch zum Schmunzeln. Wenn es ihm gut geht, ist er quirlig, fröhlich wie ein Kleinkind. Eine Freundin meinte kürzlich, er sei ein Kanarienvogel unter lauter Spatzen. Und da er alles, was im zwischenmenschlichen Bereich als gesellschaftliche Konvention gilt erlernen muss wie Vokabeln, hat das auch teilweise ganz herzerwärmende Züge! Neulich bezahlt er hinter mir im Supermarkt eine Tüte Chips mit seinem Taschengeld und verabschiedet sich von dem Kassierer mit den Worten: „Ich wünsche ihnen einen schönen Tag. Und alles Gute für sie! Und Gesundheit!“, und ließ den verblüfften Mann mit einem verdutzten Fischgesicht zurück.
Das sind die guten Tage.
Und es gibt die anderen. Er gerät manchmal in so „Zustände“. Die dauern meist ein bis zwei Wochen an. Mittlerweile bemerken wir die Frühindikatoren, stehen aber hilflos daneben. Überforderungssituationen, die überhand nehmen. Die lange Schulzeit bis zu den Sommerferien. Krach, Belastung im Schulalltag. Zurückweisung. Und das alles trifft auf einen wachen, hochintelligenten Verstand, der diese Einflüsse aber weder filtern noch verarbeiten kann. Und „durchdreht“, salopp formuliert.
Wenn es ihm schlecht geht, ist es, als hätte jemand unserem Familiensystem einen Knüppel ins Getriebe gerammt. Nichts geht mehr. Alle Ressourcen werden dafür aufgewandt, den „Schaden“ zu beheben. Telefonate mit der Schule, Arztbesuche. „Ich halte es für angebracht, ihren Sohn mal wieder stationär aufzunehmen.“. „Worüber reden wir hier? Sechs Wochen?“. „Mindestens zwölf Wochen.“. „ Das letzte Mal haben sie sechs Wochen gesagt und es wurden sieben Monate daraus. Weihnachten, Ostern, sein Geburtstag!“. Darauf die Ärztin: „Wenn ihr Kind nierenkrank wäre, wäre es für sie selbstverständlich, dass er einmal im Jahr an die Dialyse müsste unter Umständen. Finden sie sich damit ab, dass ihr Junge möglicherweise einmal im Jahr zu uns in die Klinik muss. Er ist krank!“.
Es ist aber nicht dasselbe. Nein, man kann es eben nicht vergleichen! Ich habe ein krankes Kind. Aber so wenig, wie er seine Umwelt versteht, kann die ihn verstehen. Und auch mit diesem Umstand seiner Einschränkungen klarkommen. Die Leute verstehen es einfach nicht. Wie denn auch? Das ist alles wuschig und schwurbelig und da steht dieser hübsche junge Mann und spricht eloquent und: Was? Der soll behindert sein? Und nein, ich weiß nicht, wie es ist, ein nierenkrankes Kind zu haben. Aber ich habe eine klare Vorstellung, wie die Umwelt auf eine derartige Ankündigung reagiert. Und das daraus resultierende Mitgefühl. Und ich weiß, wie die Umwelt auf meinen Sohn reagiert.
Wir Eltern haben alles richtig gemacht. Alles getan, um Hilfe zu bekommen. Und bekommen auch alle Hilfe.
Und denoch bekommen wir keine.
Am Ende sind wir doch allein. Der Mann und ich. Und unser Sohn. Er hat ja nur uns!
Es gibt Tage, an denen ist mir hier nicht nach lustigem Klamauk. Tage der Funkstille, Schreibblockade… Ich würde wirklich gern, aber mein Kopf steckt im Nebel. Ich operiere nur. Muss machen, was gemacht werden muss. Und Ruhe bewahren! Nicht die Nerven verlieren! Sicherheit ausstrahlen! Nicht an morgen und in zehn Jahren denken. Und nach links gucken, den Mann nicht vergessen. Fragen: „Wie geht’s dir? Kommst du klar?“. Und mich dasselbe fragen, täglich. Auf meine Akkus achten. Und am Ende: Diese Worte ausspucken, damit der Nebel sich verzieht und wir morgen wieder zusammen lachen können. Oder übermorgen. Obwohl…
Ich lache auch wenn´s regnet. Denn wenn ich nicht lache, regnet es ja trotzdem!
Karl Valentin
Wenn ich das Baby küsse an so grauen Tagen, dann merke ich, wie mein Akkufüllstand steigt und auch wenn ich sehe, wie die zwei Brüder mit einander umgehen. Da ist nur Zuneigung zwischen den beiden! Und manchmal denke ich, das Baby wurde uns deswegen geschenkt… dieses Wunder, das keiner erklären kann.
Nein! Sie sind beide Geschenke. Wundervolle Geschenke. ❤ Irgendwas hat sich das Universum schliesslich dabei gedacht.