Von Krokodilen und Spinnweben

Als ich Mira´s Geschichte las, lief es mir heiß und kalt den Rücken hinunter.

Da wir via Facebook befreundet sind durch die Bloggerei, las ich dann noch mehr über sie. Über das „Krokodil“ in ihrem Bauch. Wie es ihr nach der Endometriose-Operation ging, sah ihr strahlendes Gesicht und die Freude darin, dass sie schmerzfrei war. Ist! Dass sie schmerzfrei ist. Ich freue mich sehr, dass ihr Leidensweg einen guten Abschluss gefunden hat und hoffe, in diesen Satz muss nicht irgendwann ein „vorerst“ eingefügt werden… Dass das Krokodil für immer verschwunden ist.

Auch Tage später dachte ich noch an sie und schrieb sie an, denn nie hätte ich einfach so mit einem eigenen Blogpost ihre Geschichte aufgegriffen. Das liegt vielleicht auch daran, dass mir die Sensibilität um das Thema schmerzlich bewusst ist. Sie schrieb, sie freue sich auf meine Zeilen.

(Wer keine Lust hat, bei Wikipedia nachzulesen: Endometriose bedeutet, dass sich Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter ansiedelt und dort ebenso von Hormonen gesteuert agiert. Dabei stört sie die Funktionalität der befallenen Organe. Etwa jede zehnte Frau ist betroffen. Endometriose ist die häufigste Ursache ungewollter Kinderlosigkeit.)

Es gibt furchtbar viele chronische Krankheiten mit noch schlimmeren Verläufen, mieseren Prognosen. Manche sind nicht mal ansatzweise therapierbar. Und dennoch hat die Endometriose etwas Perfides an sich, etwas, dass zumindest in meinen Augen sehr elementar in das Frausein und oftmals in das ganze Menschsein eingreift. Mediziner haben errechnet, dass Endometriosepatientinnen auf durchschnittlich fünf Jahre Schmerzen in ihrem Leben kommen (sehr optimistisch gerechnet). Die psychische Belastung wird mit der von Krebspatienten gleichgesetzt. Immer wiederkehrende Schmerzen, Sterilität und alle Unannehmlichkeiten, die diese Zellwucherungen und auch die Therapie mit sich bringen, schlagen aufs Gemüt.

Auch mir.

Vor ziemlich genau zwanzig Jahren wurde ich das erste Mal operiert. Schmerzhafte Regelblutungen plagten mich und die Operateure sagten, schauen wir mal! Wir machen drei kleine Schnitte und morgen springen sie schon wieder wie ein junges Reh durch den Park. Ich weiß nicht, wass sie annahmen zu finden. Eine Zyste vielleicht? Die Laparaskopie steckte damals zwar nicht mehr in den Kinderschuhen, aber so ein Allerweltsding war sie auch noch nicht. Ich hatte Glück. Ich kam im Gegensatz zu Mira an Mediziner, die wirklich gründlich arbeiteten. Als ich aus der Narkose erwachte, war mein Unterbauch komplett zugeklebt und links und rechts hingen dicke Schläuche aus mir raus, die irgendwas in Beutel abtransportierten. Ich wurde völlig panisch, denn darauf hatte mich niemand vorbereitet!

Im Nachhinein erfuhr ich, dass ich eine Endometriose im fortgeschrittenen Stadium habe mit, neben akuten Läsionen an den Geschlechtsorganen, massivem Befall des Darms und der Blase. Beide Organe waren großflächig an der Bauchdecke angewachsen. Ebenso wie bei Mira musste auch bei mir ein Stück des Darmes entfernt werden, weil die Endometrioseherde leider die negative Eigenschaft haben, die befallenen Organe in Funktionsfähigkeit und Struktur zu schädigen. Der Operateur zeigte mir Fotos, die ich lieber nicht gesehen hätte und weil ich nicht verstand, was wo war, und was genau Muskelfasern und Bänder und was denn nun das „Böse“ in mir, etablierte sich von da an für mich der Begriff: „Ich habe Spinnweben im Bauch“.

Es heilte gut und ich fühlte mich sehr gut betreut. Nach zwei Wochen wurde ich entlassen mit dem Rat, meinen Kinderwunsch nur nicht allzu lange hinauszuschieben. Bei manchen Patientinnen käme die Endometriose wieder. Da war ich sechsundzwanzig Jahre alt und der Bärtige noch nicht in Sicht.

Anderthalb Jahre später war er dann da und ich machte ziemlich schnell Nägel mit Köpfen. Und der Bärtige machte mit. Ich ging wieder in dieses Krankenhaus, diesmal um die Durchlässigkeit der Eileiter prüfen zu lassen. Wieder Bauspiegelung. Fazit: Eileiter gespült, aber he! Wieder großflächiger Endometriosebefall im kleinen Becken. So schnell? Ja. Und dabei war ich damals sogar beschwerdefrei. Der Rat der Ärzte nach der zweiten Operation: Behandlung in einer Kinderwunschklinik. Die „spontane“ Einnistung eines Ei´s hielten sie für unwahrscheinlich. Wir folgten dem Rat und als wir den Termin für die Insemination hatten, wurde ich schwanger. Spontan. Einfach so wie andere auch!

Die Dauer einer Schwangerschaft ist für Endometriosepatientinnen eine sehr entspannte Zeit, da das bedeuetet, über Monate schmerz- und beschwerdefrei zu leben. Durch die Hormonumstellung trocknen die Herde aus, bilden sich zurück. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, ob ich das damals besonders genossen habe…

Die Endometriose kam immer wieder. Nach jeder OP war ich eine Weile beschwerdefrei, um dann die Vehemenz der Hormone wieder mit all ihrer Hässlichkeit zu spüren. Ich habe mich an Entspannungsmethoden versucht, habe Kontakt mit meinem Körper aufgenommen. Es wurde nicht besser. Nur anders.

Ich lernte, dass Ibuprofen oder besser noch Diclofenac meine besten Freunde sind. Zusätzlich zu den atemraubenden Schmerzen während der Periode kam noch eine Laktoseintoleranz, die mich viele Jahre begleitete und auch Einschränkungen von mir forderte. Den Zusammenhang zwischen beidem hat mir erst viele Jahre später ein Arzt erklärt.

Die Jahre gingen ins Land und ich lebte mit den Gezeiten meines Körpers. Mal besser, mal schlechter. Ich war abgelenkt durch berufliche und private Herausforderungen. Dann wurde der Wunsch nach einem weiteren Kind immer drängender. Es klappte nicht noch einmal „einfach so“.

In der Kinderwunschklinik musste ich im Rahmen der regulären Bauchspiegelung wieder unters Messer. Die Erlebnisse und ein Einblick in meine damalige Gefühlswelt kann man hier nachlesen. Als ich aus der kleinen Routineuntersuchung viel später als erwartet erwachte, saß der Operateur mit sorgenvollem Blick am Fuße meiner Krankenhausliege. Draußen dunkelte es bereits und alle anderen Patientinnen, die diese so wuselige Tagesklinik morgens noch bevölkerten, waren längst wieder voller Hoffnung zu Hause. Ich lag noch da. Er sagte, dass er erst einmal im Laufe seiner Tätigkeit einen derartig schweren Verlauf bei einer Frau gesehen habe, und diese Frau sei aufgrund des Befundes bereits berentet gewesen. Berentet!

Die Scheiße war also wieder zurück. Und überall. Er sagte, er habe in vielen Stunden die Läsionen verödet – ich habe mir nicht gemerkt, wo überall – und dass er getan habe, was eben im Rahmen dieser Operation möglich gewesen war. Weiter insistierte er, mich dringend von meiner Kinderwunschbehandlung zu verabschieden und mich statt dessen zwingend einer chirurgischen und hormonellen Behandlung zu unterziehen. Aufgrund der massiven Vernarbungen und Schädigung der beteiligten Organe sollte das oberste Priorität haben.

Es gibt mittlerweile viele Varianten, mittels Hormonbehandlung der Endometriose entgenzuwirken. Salopp gesagt wird die Patientin für eine Weile künstlich in die Wechseljahre versetzt, damit die Herde austrocknen. Danach veröden, was noch da ist und im Nachhinein ist bei vielen Frauen eine Fruchtbarkeit wieder hergestellt und ja, es gibt Frauen, bei denen die Endometriose für immer oder sehr lange in einen Dornröschenschlaf fällt. Genauso wie es Frauen gibt, die keinerlei Beschwerden haben mit einer derartigen Diagnose. Ich zähle zu keiner der beiden Gru

Foto: Pixabay

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ppen. Mir wurde aufgrund der Schwere des Befundes und meines Alters geraten, über eine dauerhafte chirurgische Lösung nachzudenken.

Habe ich nicht. Nicht drei Minuten. Ich wollte nicht die Wechseljahre versetzt werden und schon gar nicht wollte ich kastriert werden! Mein ganzes Frausein, das Verständnis meines Seins hat mit meinem Uterus zu tun. Mit Fruchtbarkeit. Ebbe und Flut, Gezeiten. Und ja, irgendwann wird es Zeit, sich davon zu verabschieden, für jede Frau. Und loszulassen. Und ich denke auch nicht, dass eine Frau danach weniger „Frau“ ist, nur ich war nicht an dem Punkt, loszulassen. Das „Kinderzimmer“ zu räumen.

Und die Zeit gab mir recht. Und auch heute, vier Jahre später kann ich das Glück kaum fassen, das mich jeden Morgen anlacht aus seinem Bettchen.

Aber die blöde Scheiße kam wieder. Natürlich kam sie wieder. Etwa um den ersten Geburtstag des Wunderbaren.

Es sind nicht mehr nur fünf Tage im Monat, an denen ich mich quäle. Es geht bereits am Tag des Eisprungs los mit fürchterlichen Schmerzen in der Steißbeingegend, die bis in die Beine ziehen (Aha, sie sitzt also diesmal auch am Steißbein). Eine Woche vor „der Woche“ Blasenschmerzen beim Wasserlassen (Aha, die Blase auch wieder). Dann drei Tage, bei denen ich mich bei wirklich jedem Toilettengang winde vor Schmerzen. Die Laktoseintoleranz ist nach der schwangerschaftsbedingten Ruhephase nicht wieder aufgetreten, aber der Darm macht mir erneut große Probleme und ich bin eingeschränkt mit den Lebensmitteln, die ich vertrage. Dazu kommen Regelschmerzen, die mich an manchen Tagen denken lassen: Jetzt das Fenster öffnen und Anlauf nehmen! Immerzu eine andauernde bleiernde Abgeschlagenheit, die möglicherweise daher rührt, dass selbst unter Schmerzmitteleinfluss der Körper arbeitet, um die Entzündungsherde zu bekämpfen. Dazu kommt, dass ich mich permanent zusammenreißen muss. Stell dir doch mal vor, du lebst oder arbeitest mit jemandem zusammen, der ständig „ein Zipperlein“ hat. Willst du das immerzu hören?! Über Jahre?

Soweit der Ist-Zustand. Wir haben hier jemanden mit Schmerzen, aber ihr kann geholfen werden. Ja, die Therapie ist möglicherweise drastisch, aber he! Es locken Lebensqualität und ein schmerzfreies Leben! Wo also ist mein Problem?

Es liegt in der Natur der Erkrankung. Es geht um elementare Funktionalitäten des weiblichen Körpers und greift auch in die Intimität ein. So schmerzhaft jeder Eisprung ist, so freudig begrüße ich dennoch den Umstand, dass die Säfte noch fließen. Ebbe und Flut einer stürmischen, rauen See. Auch wenn es nahezu unwahrscheinlich ist, dass jemals wieder ein Ei die Einnistungsphase übersteht, begegne ich meinem Körper dennoch liebevoll und tröstend in dieser Zeit. Und ich habe Angst vor dem Gefühl der „Leere“ in mir, sollte ich die Gezeiten irgendwann nicht mehr spüren. So aprupt.

Ich bin einen langen Weg mit dieser Krankheit gegangen. Und ich habe zweimal das Wunder einer natürlichen Empfängnis erlebt und zwei völlig unkomplizierte Schwangerschaften durchlebt. Jetzt, zwanzig Jahre nach meiner ersten Operation habe ich vielleicht bald meine letzte.

Ich denke an Mira´s glückliches Gesicht und daran, dass jede zehnte Frau betroffen ist von dieser Krankheit. Manchmal kommt sie nicht wieder. Manchmal kommt sie lange nicht wieder. Manchmal bekommen auch Frauen mit einer eindeutigen Sterilitätsdiagnose gesunde Kinder. Einfach so! Ich wünsche es allen.

Und manchmal muss man einfach eine vernünftige Entscheidung treffen. Und ein Beratungstermin bedeutet ja noch nicht, dass ich das Kinderzimmer sofort ausräumen lassen muss…

 

*Für Mira, die Krokodilbändigerin*

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Geburtstage

Geburtstage

Während die Erwachsenengeburtstage und selbst der des großen Kindes ja grundsätzlich Tage sind, an denen der Jubilar gefeiert wird, ist es bei dem des Kleinsten irgendwie ganz anders… sie katapultieren mich in die Vergangenheit.

Schon zum zweiten Mal. Bereits viele Tage vor „dem“ Datum, schlurfte ich feuchtäugig und seufzend in der Gegend rum. Und dann traf es sich auch noch, dass meine Wege durch das Uniklinikum an der Frauenklinik vorbeiführten. Und da hörte ich es: „Aaaaaaaah!“, in diesem ganz besonderen Tonfall. Keine drei Sekunden später erneut: „Aaaaaaaah!“. Meine Schritte verlangsamten sich automatisch und meine winzige, schrumpelige Gebärmutti krampfte sofort solidarisch mit.

Eine Stunde später musste ich immer noch an die Frau denken. Ich legte Wäsche zusammen und seufzte schon wieder. Sie würde nun glückstaumelnd und verheult ein rosiges Menschlein, schlafend und zusammengekrümmt wie ein Engerling oder mit ganzer Babykraft wütend ausgestreckten Gliedmaßen und lauthals die Welt anbrüllend, unterhalb der linken Schulter liegen haben. Auf ihrem Herzen. Seufz.

Am letzten Augusttag dann (dem errechneten Geburtstag des Kleinsten) lief ich breitbeinig in der Gegend rum und hoffte auf Blähungen, um noch mal Bewegung in mir spüren zu können. Und benahm mich auch sonst so, als bräuchte ich dringend Hilfe!

Wenn ich abends liebestaumelnd über dem Gitter des Babys hänge und den warmen kleinen Rücken streichle, habe ich jetzt schon manchmal das Gefühl, ich muss ganz schön ausholen mit dem Arm. So von ziemlich weit links bis rechts. Wieso ist der schon so lang? So groß? Zwei Jahre. Warum geht das alles so schnell? Noch zweimal zwinkern, dann rasiert der sich im Schritt, sagt: „Tschüss Mutti!“, und zieht mit einer unsympathischen Söhnestehlerin von dannen (Ich hasse sie jetzt schon. Alle!).

Zwei Jahre soll das schon her sein? Meine Erinnerungen sind so präsent, als sei es gestern gewesen. Und das müssen sie auch bleiben, denn wenn ich das alles wirklich niemals wieder erleben darf, dann muss das für ein Leben lang reichen. Diese Erinnerungen.

Wie ich in der Klinik Meter für Meter die Gänge ablatsche, nachts. Und jede Nachtschwester auf einen Bohnenkaffee anschorre (und keinen kriege). Und wie ich dann viele Stunden später alle im Kasernenton darüber informiere, dass jetzt gefälligst der Anästhesist geholt werden soll. „Nee, Leute, ihr macht mir nichts vor! Natürliche Geburt? Hatten wir schon. Danke, kenn ich. Brauch ich nicht. Her mit dem Stöffchen! Volle Pulle, doppelte Dosis, alles! Vollnarkose extra. Nehm ich auch! Und lasst euch ja nicht einfallen, mich hier hinzuhalten. Und dann sagt ihr, ach, schon neun Zentimeter?! Jetzt ist es zu spät und ich würde den Rest ja auch noch schaffen, so suuuuper wie ich das bisher machen würde! Pah! Ich kenne euch Volk! Ich bin nicht zum ersten Mal hier! Mich trickst ihr nicht aus. Wann kommt denn endlich der Typ mit dem Betäubungsgewehr?“ (Diese Frage stellte sich das Entbindungspersonal selbst auch öfter während meiner Anwesenheit.).

Der Typ kam dann auch irgendwann und ich riss ihm den Belehrungszettel aus den Händen. „Blabla, Querschnittlähmung, Inkontinenz, mir egal. Her mit dem Scheißstift! Und jetzt mach das Ding rein, Doktorchen! Aber dalli! Warte…. Oh oh… Uuuuuuuuuih! Pffffffffff… Jetzt geht’s wieder. Mach hinne, Mensch! Sonst blas ich den Scheiß hier ab und geh runter in die Chirurgie und lass die Jungs mit dem Skalpell ran. Mir reichts jetzt langsam!“.

Dann schlafen. Ausstrecken. Herrliches Ausruhen.

Drei Minuten etwa. Dann war Schichtwechsel am Nachmittag und die Nachmittagshebamme, welche mich schon kannte, fragte streng: „Wasn hier los? Wieso hastn du ne PDA?“, „Geh weg, ich will schlafen!“, brummte ich sie an. „Nüscht. Hier wird ni gepennt. Gar keene Wehen hast du mehr! Das Ding kommt jetzt ab.“ Zum Protestieren war ich zu müde. PDA ab, Wehentropf dran und ab ging die Lucie.

Der Große kam 17:05 Uhr an einem Donnerstag zu mir, mein Kleinstes 15:50 Uhr an einem Mittwoch. Auch wenn ich von der Geburt des Großen nur noch weiß, dass es sich anfühlte, wie von einem Zug überrollt zu werden, so bleibt doch dieses Gefühl des ersten Blickes als Erinnerung wie in mein Herz tätowiert. Als die Hebamme den Großen hochhob, angezogene Beine, geschlossene Augen, mürrischer Mund. Und ich dachte: Ja! Das ist mein Kind! Mein Kind! Und der Kleinste auf meinem Bauch. Das Gefühl, ihn das erste Mal hochzuheben um ihn an mein Gesicht zu halten. Mürrischer Mund, zusammengekniffene Augen. Mein Kind!

Ich weiß, alle Mütter haben diesen Gefühlsrausch. Alle erzählen gern von ihren Geburten (oft auch gegen den Publikumswillen). Irgendwann lässt das allerdings nach. Der Gefühlsrausch verblasst vielleicht, so genau weiß ich es nicht. Dieses Mal will ich mich für immer erinnern. Ich will nichts vergessen! Die Vorstellung, dass diese Erinnerungen für den Rest meines Lebens halten müssen, dass ich das niemals wieder erleben werde, das ist ein wehmütiges Gefühl. Wisst ihr noch, diese Rentnerin im letzten Jahr? Die aufgrund der Vierlingsschwangerschaft in der Presse war? Alle haben sich den Mund zerrissen. So was Egoistisches auch! Ich war still, nichts habe ich dazu gesagt. Ich kann die Frau verstehen. Nicht die Handlung an sich, aber die Beweggründe. Die Sehnsucht. Kinderwunsch ist immer egoistisch. Man wünscht es für sich.

Nichts auf der ganzen Welt lässt sich vergleichen mit Schwangerschaft und Geburt und diesen magischen ersten Momenten. Dieser unglaublichen Liebe. Nichts! Das ist nicht, wie wenn man irgendwem erklärt, Bungeejumping sei wie Achterbahn, nur schneller. Für dieses Erlebnis gibt’s einfach gar keinen Vergleich. Und ich will das festhalten. Muss.

Halle Berry hat mit siebenundvierzig ihr zweites Kind bekommen. Annie Leibowitz und Gianna Nanini waren beide über fünfzig, oder? Ist ja auch egal. Es hört bei manchen einfach nicht auf, dieses Sehnen. Neulich meinte ich zu dem Bärtigen, ich wöllte noch mal sowas zu Weihnachten. Und zeigte auf das süße, unschuldige, goldschimmernd behaarte, weichhäutige und duftende „sowas“ (Okay, ja, man muss die auch behalten, wenn die nicht mehr so dufte(-nd) sind und nur rumdiskutieren und Türen knallen und so, aber das verdränge ich ja in solchen Momenten erfolgreich.).

Der Bärtige nicht. Er machte „dieses“ Gesicht und begann das Gespräch mit: „Henrike, …“. Bei solchen Gesprächen schalte ich bereits beim ersten Komma das innere Meerrauschen ein und rolle nur ab und an genervt mit den Augen, damit der Mann denkt, ich würde zuhören. Es geht immer um sowas wie Konsequenz und Verantwortung und Betriebswirtschaft und Nerven. Also alles Dinge, von denen ich sowieso keine Ahnung habe!

So ist das hier bei Nieselpriems.

Und er zweite Geburtstag des Kleinsten ging ins Land. So wie die unzähligen fünfzehn Geburtstage des großen Kindes. Fünfzehnmal Kerzen anzünden, fünfzehn Feiern, die ich gar nicht mehr alle zusammenbekomme. Eine Masse an Jahren und Ereignissen, komprimiert und eingedampft zu einem Erinnerungspuzzle in meinen Gedächtnis. Nur am Leben erhalten durch tausende Fotos, durch VHS-Kassetten. Wo sind all die Jahre hin? Und werden die Jahre des Kleinsten auch in diesem gierigen Schlund der Zeit verschwinden?

Ich versuche, dem erwachsen zu begegnen. Also im Rahmen meiner Möglichkeiten. Gestern meinte der Bärtige, er wöllte mit dem Kleinsten mal auf Vater-Kind-Kur fahren. Ich begrüße das selbstverständlich und habe ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass er mir mein Baby erst von der Brust reißen kann, wenn ich ein neues kriege.

Also total erwachsen eben. 😉

Ein Wunder bitte!

Wie lange habe ich auf dich gewartet. Wie viele Wochen, Monate, Jahre.

Als ich deinen Bruder bekam, glaubte ich mit der Arroganz und Unsterblichkeit meiner Jugend noch an die Großfamilie, von der ich immer geträumt hatte. Es war schwierig, die gesundheitliche Prognose eher schlecht als optimal, aber he! Da war er ja! Auch Ärzte irren schliesslich manchmal.

Er wurde so schnell groß.

Wie oft habe ich mir später alte VHS-Kassetten angeschaut, das Baby bestaunt, das er einmal gewesen ist. Wie er da goldig und süß mit seinem Windelpopo durchs Bild stolperte. Und ich, eine lächelnde, jüngere Version meiner selbst. Und ich fragte meinen Mann: Haben wir damals gewusst, wie scheißglücklich wir waren? Wie oft saß ich da, mit einem Kloß im Hals, und wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen. Diese Momente noch einmal erleben. Aufsaugen. Festhalten. Mir bewusst machen, wie flüchtig sie doch sind! Meinem jüngeren Ich die banalen Sorgen ausreden, die mich damals ablenkten zu sehen, was ich da hatte! Nie wieder würde ich das Kind aus meinen Bett wegschicken, wenn es schlaftrunken sein verschwitztes, nach Apfelessig duftendes Köpfchen an mich kuscheln wöllte. Wie kurz, gemessen an einem Menschenleben, war die Zeit, in der er mir so nah war? Wann habe ich das letzte Mal die Hand meines Kindes halten dürfen? Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern und mich davon verabschieden. Eine kleine, weiche Hand in meiner. Ein winziger Mensch, der neben mir geht und zu mir hochschaut. Ach, könnte ich das doch noch einmal erleben!

Wie oft lag ich nachts wach, feilschte mit dem Schicksal und der Vorsehung, die Hände auf meinen Unterleib gepresst. Ich zündete in jeder Kirche eine Kerze an, hoffte. Und wartete. Vergebens.

Mit ihrer Vorgeschichte… Die Mediziner waren deutlich. Die letztmögliche Chance riss ich an mich! Wenigstens versuchen wollte ich es! Wir schauen mal… sagte der Arzt. Und viele Stunden später als es für diese kleine Routineoperation üblich war, erwachte ich und blickte in sein sorgenvolles Gesicht. Also, ich muss ihnen sagen… mit so einem schweren Befund hatten wir hier nicht gerechnet… Ich kann ihnen nicht vorschreiben, was sie tun sollten, aber dringend abraten von einer künstlichen Befruchtung… bei ihrer Prognose…sie haben doch schon ein Kind…genießen sie das… das grenzt doch schon an ein Wunder… Mir fiel die alte Frau mit den Kreuzen ein aus dem Monty-Python-Film und ich meinte sie kreischen zu hören: Jeder nur ein Wunder! Ich aber wollte ein zweites. Ich sehnte mich so sehr danach!

Also keine künstliche Befruchtung. Die letztmögliche Option ungenutzt vorüberziehen lassen…

Ich war mittlerweile einundvierzig Jahre alt und hatte mich in meinem Leben schon von vielem verabschieden müssen. Von Menschen, Gewohnheiten, Träumen. Mich von dir zu verabschieden war ein bisschen wie sterben.

Was sollte ich mit der zweiten Hälfte meines Lebens anfangen? Sah ich mich doch immer nur in einem Haus voller Kinder. Reisen, Sprachen, Hobbies. Ja…hm. Das Leben genießen. Worthülsen. Sinnentleert für mich.

Es war schwer für mich, dich loszulassen. Ich hasste die Babybauchangeber auf der Straße, die Kinderwagenschieber. Wussten die, was für ein Glück sie da hatten? Mein Glück! Mein Herz krampfte bei jeder Ankündigung: Schwanger! Im Freundeskreis. Ich heuchelte Freude und konnte mich doch nicht freuen.

Die Zeit heilt alles. Irgendwann…

Und irgendwann habe ich nur noch selten an dich gedacht. Versucht, mein Leben zu genießen und das lebendige Wunder, das ich schon hatte. Die Momente, die jetzt waren, bewusst zu erleben. Mit Freude und Liebe zu füllen.

Und dann kamst du. Einfach so. Und hingst wie Chuck Norris an der Eiger-Nordwand meiner zerklüfteten Gebärmutter und keiner weiß, wie du da hinkamst. Wir wollen verhalten optimistisch sein, sagte meine Ärztin und schien jeden Monat aufs Neue überrascht, dass du noch da warst. Mein Kämpferkind! Du warst gekommen um zu bleiben. Ein Wunder! Ein zweites.

Und jetzt bist du ein Jahr bei uns. Du Wundervoller. Du schenkst mir Wunder! Durch dich weiß ich wieder, wie schön sich rieselnder Sand zwischen den Fingern anfühlt. Und die Oberfläche eines Gänseblümchenblattes. Die Perspektive auf die Welt aus achtzig Zentimetern Höhe. Und deine Hand in meiner… weich und klein und fordernd. Dein klopfendes Herzchen an meiner Brust.

Ich werde jeden Moment mit dir bewusst erleben, nichts ist selbstverständlich. Nichts banal. Ich freue mich so sehr über dich! Jeden Tag. Mama, das schönste Wort der Welt. Und nun aus deinem Mund…

Happy Birthday, mein Kleinster, mein Liebchen! Wie schön, dass du geboren bist, wir haben dich so sehr vermisst!