Der Kloß im Hals

Diesen Text habe ich vor beinahe einem Jahr geschrieben für eine Zeitung. Die meinten, er sei „gut, aber viel zu heftig“, und deshalb wollten sie ihn nicht veröffentlichen. Heute kam das Kind von einer Landheimfahrt zurück und mir diese, meine, Worte wieder in den Sinn. Ich schreibe hier immer, was ich denke. Und heute denke ich den ganzen Tag nur über meine Schluckbeschwerden nach…

In jeder Klasse gibt es Außenseiter, die in der Hofpause verkloppt werden. Denen der Ranzen ausgeschüttet wird, die Brille weggenommen, die Jacke in die Mülltonne gestopft. Die immer die ersten sind, die nach frischem Schneefall vor der Schule grölend eingeseift werden.

Die gab es schon immer. Kinder sind grausam. Manchmal. Irgendjemand ist halt immer der „Horst“, der „auf´s Maul“ kriegt! Das war schon immer so. Und irgendjemand ist halt dessen Mutter. Auch das war schon immer so.

Der Kloß im Hals ist bei mir chronisch. Wann fing das an? Mit Schuleintritt des Kindes? Vermutlich etwas eher. Dieses diffuse Wissen, viel mehr als nur eine Ahnung, mit diesem Kind stimmt was nicht. Die permanente Ablehnung von außen. Und mit den Jahren immer rabiatere Ablehnungssymptome der Kinderumgebung.

Der Kloß im Hals. Mittags im Büro zu sitzen und sich nicht zu fragen: Wird es klingeln? sondern: Ruft die Schule an, dass ich mein Kind holen soll oder ruft der Empfang meiner Firma an, weil das Kind (wahrscheinlich ohne Jacke und/oder ohne Ranzen) am Empfang steht und zu mir will?

Unzählige Kindergeburtstage, an denen die eingeladenen Kinder kamen, weil wir so tolle Aktionen auf die Beine gestellt haben und nicht wegen dem Geburtstagskind. Unverständnis traf auf Unverständnis und trotzdem immer wieder neue Versuche. Und erneute Ablehnung.

Dunkelbraune Augen über einem hübschen Mund, der spricht: „Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie einen Freund. Ich glaube, ich bin der einsamste Mensch auf der Welt!“.

Eine Zeitung. Ein schreckliches Foto. Jugendliche haben einen anderen Jugendlichen zu Tode geprügelt. Ich kann den Beitrag nicht zu Ende lesen… Der Kloß verkrampft mein Herz vor Angst. Könnte dort ein anderer Name stehen? Irgendwann wird dem jemand etwas Schlimmes antun… Wohin nur mit dieser Furcht? Wie nur kann ich ihn sein Leben lang beschützen?

Ein anderer Tag, eine andere Zeitung. Ein anderes Foto. Ein sympathischer Junge, kaum älter als mein eigener. Viele tote Kinder. Schrecklich. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Mein klumpiges Herz weint heiße Tränen. Um das Opfer, das nicht mitgezählt wurde. Galoppierende Gedanken: Wie verzweifelt muss dieser Junge gewesen sein?! Fast noch ein Kind! Warum hat man das nicht verhindert?! Er muss doch jemandem aufgefallen sein! Und was ist mit seinen Eltern? Seiner armen Mutter? Wo findet sie einen Platz für ihre Trauer? Und: Könnte dort auch ein anderes Foto stehen, dunkelbraune Augen…? Niemals! Nicht denken, nicht aussprechen! Entsetzen, Furcht und Verzweiflung. Der undenkbare Gedanke, die unmögliche Möglichkeit, die unaussprechliche Angst. Der Kloß ein Klumpen.

Erinnerungsfetzen, Gesprächsschnipsel kommen mir in den Sinn:

„Ihr Junge hat eine psychische Behinderung. Vielleicht wird er niemals Freunde finden, helfen sie ihm das zu akzeptieren. Und lernen sie selbst das zu akzeptieren!“ (eine Psychiaterin)

„Unsere Töchter haben Angst vor diesem Jungen! Entweder er geht oder wir nehmen unsere Kinder von dieser Schule! Schließlich ist das eine Privatschule und wir bezahlen ein hohes Schulgeld.“ (zwei Mütter)

„Dieser Amokläufer da in Dingsbums, der war ein Asperger. Wie euer Sohn!“ (eine andere Mutter)

„Sie müssen den Jungen irgendwie durch die Schulzeit bringen. Danach wird’s meistens besser!“ (eine andere Ärztin)

…Danach wird’s besser. Es wird schon besser. An den meisten Tagen glaube ich das sogar. Noch fünf Jahre Schule. Und dann? Dann sehen wir weiter. Eins nach dem anderen. Das sagen alle. Aber was heißt das? Und was mache ich bis dahin?

Habe ich dem fremden Jungen neulich vor der benachbarten Schule mit meinem Dazwischengehen geholfen, als er gehänselt und geschubst wurde von mehreren anderen Jungen? Ich fürchte, nicht. Vermutlich bezieht er alleine dafür morgen wieder eine Abreibung. Aber ich konnte nicht anders. Das war der Kloß. Irgendwo habe ich gelesen: „Kinder müssen lernen, ihre Konflikte alleine auszutragen!“. Ich finde das grausam, das sollte niemand lernen müssen. Aber wahrscheinlich spricht auch hier der Kloß.

Außenseiter hat es immer gegeben und wird es immer geben. Und die haben alle eine Mutter. Eine Außenseitermutter mit Kloß im Hals. Manchmal Klößchen, manchmal Klumpen.

Nachlese zum Welt-Autismus-Tag

Nachlese zum Welt-Autismus-Tag

Ich habe heute am Universitätsklinikum Dresden im Rahmen des Öffentlichkeitstages einen Vortrag gehalten, es ging um „Schule für alle!“. Begonnen habe ich mit den Worten: „Ich bin aufgeregt, weil ich ihnen in den nächsten Minuten einen wunderbaren Menschen vorstellen darf!“ und endete mit den Worten: „Mein Sohn ist besonders. Und zwar besonders toll!“.

Ganz besonders toll waren die Reaktionen im Anschluss für mich. Der Hörsaal war voll, viele Mediziner und Therapeuten, Pädagogen und ganz viele Eltern. Nicht nur aus Dresden, aus dem Umland, teilweise mehrere Hundert Kilometer angereist. Ganz viele Menschen haben im Vorbeigehen meine Hand gedrückt und „Danke!“ gesagt, „Sie sprechen mir aus der Seele!“. Ein älterer Herr meinte, er hätte geweint. Ich kenne seine Geschichte nicht. Mich hat das tief berührt.

Horst Wehner, selber Rollstuhlfahrer, hat in seiner Eröffnungsansprache sehr deutlich gemacht, wie schwer der Umgang mit „unsichtbaren“ Behinderungen ist. Das ist auch mein Empfinden: Wenn mein Sohn dem Fahrkartenkontrolleur seinen Behindertenausweis hinhält, erntet er stets ein verblüfftes Gesicht!

In Dresden gibt es derzeit sechsundachtzig Schulkinder im Alter von sechs bis neunzehn Jahren, die unter Autismusspektrumsstörungen (ASS) leiden. Das klingt nicht viel. Hinzu kommen die Kinder, die „in der Warteschleife“ hängen, die lange auf einen Termin zur Diagnostik warten, deren Diagnostik noch läuft oder wo der unendlich komplexe Prozess der „Klärung des sonderpädagogischen Förderbedarfs“ noch im Procedere ist. Hinter jedem Kind steht eine Familie. Eine Familie, die Odysseen an Therapeutenbesuchen und Gesprächen hinter sich hat und sich nicht selten jahrelang die Haare rauft und fragt, was nur stimmt nicht mit meinem Kind?

Und selbst wenn die Diagnose steht und Dinge wie „Nachteilsausgleiche“ zum Beispiel geregelt sind, dann hört die Odyssee nicht auf. Nicht, wenn das Kind schulpflichtig ist. Bei geringfügigen (Es tut mir weh, das zu schreiben!) Störungen vermag das Kind vielleicht, durch erlernte Strategien und Kompensationsmechanismen irgendwie seinen Alltag alleine in einer Regelschule zu meistern. Was aber, wenn nicht? Ja, es gibt Förderschulen und das ist auch gut so! Aber was, wenn die Förderschule sagt: „Wir können ein Kind mit den kognitiven Eigenschaften wie ihres nicht adäquat bei uns beschulen! Es müsste auf ein Gymnasium!“ und die Gymnasien sagen: „Wir sind voll! Wir haben keinen Platz für ein Integrationskind! Und seinen Betreuer!“.

Ich habe heute viele Fachvorträge gehört, und sehr viel Gutes und Wünschenswertes und Ausbaufähiges war dabei. Hoffentlich folgen den schönen Worten Taten.

Und heute ging es ja „nur“ um den Schulalltag. Die Familien, die ich kennengelernt habe, sorgen sich ja nicht nur um zehn, zwölf Jahre. Hinzukommen die Fragen wie: Wird er/sie jemals einen Beruf ausüben können? Alleine einen Haushalt führen können? Familie haben? Jemals einen Freund finden? Wer beschützt sie/ihn, wenn ich es nicht mehr kann? Es wäre wirklich wichtig, dass diesen Eltern wenigstens die Sorge um die Schuljahre genommen wird!

Und ja, ich bin eigentlich nur zum Spaß hier und am liebsten bringe ich euch zum Lachen! Aber es ist wichtig, auch mal den Mund aufzumachen, um ernsten Dingen einen Raum zu geben. Morgen können wir wieder Spaß zusammen haben, heute drücke ich in Gedanken die Hände aller Eltern, die sorgenvoll auf die Zukunft ihres besonderen Kindes schauen.