Brüder

„Der sieht ja genauso aus wie der Große!“

Es gibt Leute, die das über mein Kleinchen sagen. Ungefragt, wohlgemerkt (und unqualifiziert, ebenfalls wohlgemerkt).

Ich finde das lästig! Was ist das denn für eine Unart?! Elternmenschen einfach um die Ohren zu hauen, was nach völlig uninteressanter, subjektiver, ungefragter Nicht-Experten-Meinung für ein optisches Abstammungsverhalten bei irgendwelchen fremden Nachkommen vorliegt!

Nach wem meine Fortpflänzchen kommen, ist zweifelsfrei und argumentativ hier beschrieben worden. Das reicht aber nicht! Nun also sollen sie angeblich auch noch gleich aussehen. Dabei ist nichts gleich an denen!

Bis, ja, bis auf den Umstand, dass beide Nachkommen mit dicken Schädeln ausgestattet sind. Kopfumfang zum Zeitpunkt des Welteintrittes neununddreißig und siebenunddreißig Zentimeter. „Das große Runde muss durch das…“, ich habe noch immer postpartale Phantomschmerzen. Das macht sie gleich, die Brüder. Und dann war´s das auch schon!

Der erste war ein Schläfer. Ist ein Schläfer. Der pennte schon ab seiner Geburt eigentlich am liebsten dreiundzwanzig Stunden am Tag. Ich lief bereits im Krankenhaus mit tropfenden Brüsten ständig in das Babyzimmer (rooming in wurde damals irgendwie nicht konsequent umgesetzt) und da lag das Meinige grunzend zwischen zwanzig bläkenden Kindern. Immer. Der schlief durch. Abends um fünf (!) hingelegt, den nächsten Morgen um acht erwacht (also ich) und den Mann panisch und heulend geweckt, weil ich sicher war, das neue Baby sei tot. Er solle nachsehen, ich könne das nicht! Aber nein, der schlief einfach nur.

Der zweite kam schon mit einem mürrischen Gesichtsausdruck raus. Und den behielt er monatelang bei. Schlafen?! Pah! Der schläft schlecht ein, schlecht aus. Und ja, auch schlecht durch. Und Wachsein fand der auch lange Zeit doof! Er brüllte einfach nur die Welt an. Scheißwelt! Und reckte seine kleine Faust in die Luft. So einer ist das.

Der Große baute schon früh behände und flink Dinge zusammen, Konstruktionen, hatte aber keine Lust, damit dann zu spielen! Das Bauen war sein Spielen. Dem Kleinen gehen dergleichen Talente vollkommen ab. Der kriegt nicht mal ne Spielzeugmülltonne an ein Spielzeugmüllauto drangedingst. Wenn man ihm diese aber daran befestigt, kippt er völlig im Spiel versunken stundenlang Spielzeugmüll in sein Spielzeugauto. Und dann alles wieder aus. Und wieder von vorn.

Der Erstgeborene interessiert sich für Technik und Zusammenhänge.  Der zweite singt und rezitiert Gedichte in Babysprache und wenn klassische Musik erklingt, lauscht er mit offenem Mund, den Blick in die Ferne gerichtet. Besonders bei Klavierklängen und Querflöte (Als ob ich tatsächlich wüsste, wie eine Querflöte klingt!).

Der Große erdrückte mich jahrelang, wenn er mir seine Liebe zeigen wollte. Und zwar buchstäblich! Der kam mir immer zu nahe, kroch nahezu in mich rein, als wöllte er dahin zurück, von wo er gekommen war. Schlief in meinem Bett, einen Klammergriff fest um mich geschlungen. Rutschte bis auf drei Zentimeter an mich heran um mich ganz genau (!) zu beobachten. Umarmte mich derart heftig, dass mir die Luft wegblieb und drückte, kniff mich, um zu sehen, was das dann für eine Reaktion auslöst. Einmal sah er mich weinen und das Bild faszinierte ihn und weil es ihm fremd war, kam er neugierig lächelnd näher. Näher. Und ganz nah vor mir stellte er dann sachlich richtig fest: „Du weinst!“.

Der Kleine ist furchtbar mitfühlend und heult sofort los, wenn irgendwo jemand heult. Oder informiert wie eine Feuerwehr -Tatütata!- die Umwelt: „Da weint jemand! Da weint jemand!“. Als der Beste sich mal am Fuß verletzt hatte, brachte der Kleinste noch tagelang morgens ein frisches Kinderpflaster um seinen Papi zu verarzten und brach in bitterliches Weinen aus, als ich mir einmal (Wie konnte ich nur?!) die Fußnägel blutrot lackiert hatte. Es war ihm einfach nicht begreiflich zu machen, dass das tatsächlich nur Farbe ist. Der litt mit mir!

Außerdem ist er ein Genießer, der Kleine. Rückenkraulen, streicheln, alles findet der schön! Der Große konnte das nicht aushalten, den kitzelten zärtliche Berührungen stets.

So ist alles neu und alles anders irgendwie mit Zweien. Und immer überraschend!

„Ich liebe euch beide gleich!“

Lüge.

Meine Mutter hat diesen Satz gern verwendet und ich begreife den noch heute nicht! In meinem ganzen Leben habe ich nicht zwei Menschen getroffen, die ich „gleich“ geliebt hätte. Und meine Kinder, die Menschen, die ich also am allerdollsten in meinem ganzen Leben und gemessen an allem, was im Universum an Tiefe und Breite bezüglich Liebe und Liebesfähigkeit möglich ist, liebe liebe liebe, bei denen ist das doch nicht anders! (Verknallter Satz, bitte die Syntax wegschmeißen und die Worte einzeln aufheben. Danke.)

Was mir klarer ist, da ich nun zwei von der Sorte habe, ist, dass das Spektrum an dem, was gemeinhin „Liebe“ genannt wird, breiter wird. Und tiefer, höher, größer. Und zwar alles auf einmal!

Während ich das Kleinchen anschmusen und küssen und herumtragen kann und dieser mein Licht ist, liebe ich meinen Erstgeborenen von Ferne. Ein schmachtendes zartes Gefühl, vergleichbar mit einer unerfüllten Jungmädchenliebe.

Ich sehe den oft gedankenverloren an, die sehniger werdenden Arme, die Schultern, die sich wölben, der männliche Kehlkopf (Seit wann hat er das? Das ist kein Kehlkopf, da sitzt eine Faust in seinem Hals!). Ich sehe in ihm das Baby, das er einmal war und eine Vision des Mannes, der er vielleicht einmal werden wird. Und ich würde gern seine Hand streicheln mit den langen Fingern, ihn in den Arm nehmen, also richtig, nicht dieses halbweggedrehte Küsschen links-Umarmen zum Abschied. Aber das geht nicht. Nicht mehr.

Und so bestaune ich diesen jungen Mann und liebkose ihn zärtlich mit meinem Blick und liebe ihn dennoch tief und innig wie den kleinen Kerl, dem ich meine Liebe zwischen Küsse gepappt ins Gesicht schmatzen darf. Aber eben anders!

Dieser Kleine, um den ich mir so gar keine Sorgen mache und der Große, um den ich mir jahrelang den gesamten Sorgenkatalog machen musste. Sie sind wirklich verschieden. Zum Glück. Zu meinem Glück!

Und zu meinem größten Glück lieben sie einander wie nichts anderes auf der Welt und das zu sehen… hach Leute!

Wenn der Windelscheißer morgens mit seinem Nunni im Mund das Bett des Großen entert, dann verhakeln die schlaftrunken ihre Beine, seufzen beide und schmusen sich wach. Aneinandergekuschelt. Ich stehe da oft in der Tür und sauge diese Bild auf. Unfähig, den Blick abzuwenden. Und manchmal, ganz selten, lassen sie mich zu sich. Und wenn ich auf der Decke meines großen Sohnes liege, dessen Geruch einatme, den Rücken des Kleinen an meinem Bauch und seine Atemzüge vor meinem Herzen, dann… tja, dann sind da die Antworten auf alle großen philosophischen Fragen des Lebens. Wer bin ich? Worin besteht der Sinn des Lebens? Was ist Liebe? Da sind sie, die Antworten. Neben mir. Völlig zweifelsfrei.

Und dann passiert es auch, dass meine Liebe überläuft und ein bisschen auf den bärtigen Blödmann überschwappt, dem ich vielleicht vor einer Stunde noch verkündet habe, dass ich seine Seite des Schlafzimmers neu vermiete, und ich schaue den ganz verliebt an. Und mein Unterleib krampft und versucht, irgendwo noch ein verschrumpeltes Ei aufzutreiben und auf den Weg zu schicken. Guck doch mal, das haben wir gemacht! Diese zwei kommen von uns! Aus uns! Ist das nicht fantastisch?!

Jaja.

Und in einem anderen Szenario machen sie mich fix und fertig! Alle drei. Weil sie nämlich stets Allianzen bilden gegen mich und das bärtige Kind das schlimmste von allen ist! Ich bin hier alleinerziehend, echt jetzt.

Neulich kamen sie aus dem Biergarten, wo sie „Männergespräche“ geführt haben, während ich ge-Netflix-t und entspannt habe. Da platzen sie zur Wohnzimmertür herein und schon gehts los: „Boar, hier stinkts!“, „Mama, hast du gefurzt?! Was hast du gegessen?“, „Ob ich was?! Also, bitte!“, „Klar, eenen Ordentlichen abgedrückt haste in die Kissen!“ (Der eine macht Mundfürze, der nächste stimmt ein, zwischendurch boxen sie sich gegenseitig johlend gegen die Schulter). „Jetzt reichts aber! Ihr spinnt wohl! Wie redet ihr denn mit mir!“. „Mama Hose kackt! Mama Hose kackt!“.

Und neulich begrüßte mich der jüngste im Trio infernale mit den Worten: „Hallo Wadenmuschi!“. Und ich so: „Na, du bist aber ein kleiner Frechi!“. Und er dann: „Mama ist eine frechiblaue Pupswaschanlage!“.

Sie machen mir wirklich viel Freude, diese Brüder!

Nach wem kommt der denn?

„Ach, der sieht ja genauso aus wie dein Mann!“

„Der ganze Vater!“

Ich kann es nicht mehr hören. Seit Jahren schon verfolgen mich diese Sätze. Ich weiß nicht, mit welcher kollektiven Blindheit die alle geschlagen sind, denn Fakt ist: Sie kommen beide nach mir, die Kinder. Vollkommen zweifelsfrei! Ich verstehe schon, vermutlich wollen die Leute alle nett sein zu meinem Mann, denn das muss schon hart sein: Zwei Kinder zu haben, die so überhaupt nicht nach ihm kommen. Ich versuche immer mal wieder, dem Mann die Augen gegenüber der Wahrheit zu öffnen, nämlich, dass die Kinder wirklich nur und ausschliesslich und für alle sichtbar mir ähnlich sind, aber ich ernte stets schallendes Gelächter! Weil niemand außer mir dies sehen würde…

Bei dem Großen ist es besonders schlimm. Ständig behaupten irgendwelche Menschen, er sähe aus wie der Beste. Dabei sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass der nach meinem Opa Herbert kommt! Also um die Augen. Die Form des Kinns, die Öhrchen, die Wölbung der Fingernägel, sieht alles aus wie bei mir. Oder wie bei meiner Schwester, meiner Tante, meinem Vater… Und überhaupt ist keinerlei Barthaar an ihm. Auch die überaus prägnante Anlage zur Rückenbehaarung, die der Beste mitbringt, hat sich nicht durchgesetzt. Der Rücken des Kindes ist glatt und schön und… sieht aus wie meiner! Na, also. Außerdem ist er langgliedrig und schlank wie die Menschen in meiner Familie. Die Familie des Angeheirateten besteht aus einer Ansammlung von netten, sympathischen Hobbits. Alle so Ritter-Sport-formatig. Ein einziger Mensch in der gesamten Linie des Mannes hat die magische Wachstumsgrenze von 1,60m geknackt (und den habe ich geheiratet). Das Kind ist jetzt bereits 1,60m hoch. Ganz klar die mütterlichen Gene (Also die aus meiner Familie, nicht direkt meine, ich habe selbstlos alle Zentimeter über 1,57m dem Rest der Familie zur gleichmäßigen Verteilung überlassen.). Wenn ich nett sein möchte und mir viel Mühe gebe, dann kann ich Ähnlichkeiten zwischen den beiden großen Jungs erkennen. Zumindest beim o-beinigen Cowboy-Gang. Wenn ich hinter ihnen laufe, sehen die aus wie zwei Lone Rangers, denen jemand das Pferd zwischen den Schenkeln weggeschossen hat. Aber das wars schon an Gemeinsamkeiten. Glaub ich.

Als das Baby geboren wurde, dachte selbst ich kurz, ein Schluck väterlichen Erbguts hätte sich nun durchgesetzt. Denn das Kind schien hellblond zu sein. Nun ist der einzige naturblonde Mensch in der gesamten Mischpoke meine Schwiegermutter. Aber nein, bereits nach wenigen Tagen schimmerte ein deutlicher Rotstich auf des Kindes Kopf. Ganz klar: Der kommt nach meiner Oma Charlotte! Wobei das ganze Konzept des Babys noch Überraschungen birgt. Denn eigentlich sah er (bis auf das beschriebene güldene Haupthaar) aus wie eine Kreuzung aus Yoda und Benjamin Button. Also nicht in der ausgewachsenen Brad-Pitt-Version, sondern eher wie der kleine Benjamin Button. Ein mürrisch dreinblickender, faltiger Mini-Opa. Aber wir kennen ja alle den Film und wissen, was da später rausgekommen ist. Und ich bete zu Gott, dass der allgemeine Konsens darüber, was bei Männern als attraktiv gilt, noch einige Jahre so bestehen bleibt. Denn dann isser wenigstens hübsch. Das wird er brauchen können. Denn viel mehr kann er nicht, das ist jetzt schon abzusehen. Eigentlich kann er gar nichts. Das macht aber nichts. Der wird später eine schlauchbootlippige Schauspielerin heiraten  und viele Kinder adoptieren.

Was das Temperament der Kinder angeht, da besteht allerdings bei niemandem der Hauch eines Zweifels, dass sie beide nach ihrer Mutter schlagen. Theatralisches Geheul, dramatisches Sich-an-den-Haaren-reißen und Auf-den-Boden-schmeißen können wir alle drei. Der Beste hat diesbezüglich keinerlei Begabung.

„Das hatter von dir!“. Wenn dieser Satz aus dem Mund meines Mannes kommt, geht es garantiert um die beneidenswerte Fähigkeit der Fantasie. Warum gerade diese Eigenschaft so scheinbar neidlos meinem Genpool zugeordnet wird, weiß ich nicht. Aber es stimmt: Das Großkind und ich, wir können nicht nur die großen Dramen, nein, auch hemmungslose Übertreibungen liegen uns im Blut. Wenn jemand schnöder Fakten bedarf, fragt er am besten keinen von uns. Oder halbiert im Kopf unsere Aussage, pustet den Flitter runter und dann kommt er möglicherweise in Faktennähe. Möglicherweise.

Wenn ich mit dem Besten mal wieder streite, wem irgendjemand nun ähnlich sieht (der ist da echt hartnäckig auf seinen Standpunkt erpicht), dann holt er gern eine hornalte Episode vor (Gähn!): Die Besitzerin eines Getränkehandels in Wohnungsnähe hatte mal vor Jahren ein Paket entgegengenommen für mich. Als ich das Abends abholen wollte, verkündete sie, sie hätte das bereits meinem Mann mitgegeben. Auf meine verdutzte Frage hin, woher sie denn bitte wüsste, wer mein Mann sei, antwortete sie: „Na, ich habe sie doch schon mit ihrem Sohn gesehen. Und da kam heute ein Mann rein, der sah aus wie ihr Sohn. Nur größer. Und da habe ich dem das Paket gegeben.“ (Ich hoffe, alle DHL-Boten lernen daraus, dass ein Getränkemarkt der denkbar schlechteste Ablieferungsort für Pakete ist!).

Vermutlich werden noch die nächsten zwanzig Jahre alle Leute behaupten, die Jungs sähen aus wie ihr Vater. Aber ihr und ich, wir wissen es besser, nach wem die zwei wirklich kommen. Nach mir. Und Brad Pitt.

Und das stimmt, ohne Übertreibung!