Nein, es geht hier nicht um Blätter und Wetter und die aktuelle Jahreszeit. Nein, das wird kein Herbstspecial. Vielmehr will ich etwas anderes erzählen, das für mich mit dem Wort „Erntedank“ zu tun hat, wenngleich im übertragenen Sinne.
Ich war die letzten fünf Wochen alleine mit meinem großen Sohn, wie ihr ja bereits wisst, und für diese Zeit bin ich so unendlich dankbar. Zwar war er dreizehn Jahre der „einzige“, weil Einzelkind und man sollte meinen, wir hätten doch in den vergangenen Jahren wirklich viel Zeit miteinander verbracht, aber das ist irgendwie anders jetzt. In den vergangenen sechs Jahren hatte er nie meine ungeteilte Aufmerksamkeit, der große Sohn, weil ich mich ja um seinen kleinen Bruder kümmern musste. Nun, da der Bärtige mit dem Blondino auf Kur weilt, sind es wieder nur wir zwei.

2006
Wer hier schon länger mitliest, weiß, dass mein Erstlingswerk ein besonderer Junge ist, und das war und ist er wirklich. Sagen das nicht alle Mütter über ihre Söhne? Vielleicht. Hach, ich würde euch so gern ein Foto zeigen von ihm, von dem jungen Mann, der er geworden ist und ihn euch allen vorstellen! Das geht ja nun aber nicht und deshalb müsst ihr mir einfach glauben, dass er wunderbar ist! Und euch begnügen mit den Kinderfotos, die ich euch zeige.
Ich habe mal behauptet in irgendeinem Kontext, dass ich glaube, die einen haben schlimme Jahre mit ihren Kindern vor deren zwölftem Geburtstag und die anderen eben danach, wegen der ausgleichenden Gerechtigkeit. Ich weiß natürlich nicht, ob das stimmt, habe aber genau diese Erfahrung hier gemacht. Mit dem Großsohn.
Der war sein ganzes Kinderleben „komisch“, wurde abgelehnt von Bezugserwachsenen, anderen Kinder, weil er sich partout nicht „normgerecht“ verhielt und irgendwie nicht zu kapieren schien, wie das mit dem normativen sozialkompetenten Verhalten funktioniert. Ich denke, ab dem zweiten Geburtstag ungefähr ging das los. Von da an war ich permanent zu Gesprächen bei Kindergärtner*innen, Kinderspycholog*innen, Lehrer*innen und so weiter. Ich habe mir jahrelang zu Herzen genommen, was sie schlechtes über meinen Sohn sagten. Es traf mich in der Mitte, mittenrein, jahrelang. Ich ging zu Eltertrainings, bei denen ich in Rollenspielen lernen sollte, wie ich meinem Sohn Grenzen beibringe. Ich saß auf Stühlen, Hockern, Sesseln und hörte irgendwelchen Experten und Respektspersonen zu, wenn sie mir erzählten, was alles an meinem Kind nicht stimmte und wie ich (!) doch mit meiner Vorbildhaltung und meinem Erziehungsauftrag dort gegenzusteuern hätte.
Das ging zehn Jahre so. Zehn. Jahre.
Mein Sohn war ein wunderbar fantasievolles, übersprudelndes Kind, das sich mehr und mehr in sich zurückzog, da er die Ablehnung durchaus spürte und nicht wusste, was er denn tun könnte, um dazuzugehören. In all den Jahren hatte ich so viel Kummer, Herzschmerz und ich sorgte mich so unendlich. Was sollte denn nur aus diesem Jungen werden? Wird er jemals Freunde finden? Anschluss in der Gesellschaft? Was habe ich nur falsch gemacht?! Mein Leben als Mutter dieses Kindes erschien mir wie eine niemals endende Prüfung. Die Sorgen überlagerten oft die Freude, die mir dieser Junge eigentlich tagtäglich machte. Ob ich wollte oder nicht. Bei allen anderen Müttern in meiner Welt sah alles so leicht aus, so „normal“, nur bei uns war Chaos und Unverständnis, nur ich musste mich so abmühen, nur mein Sohn war so unbeliebt und ungeliebt. Außer von mir. Warum verdammt, warum?
Es waren beschissenen Jahre. Für uns alle. Und ich habe nicht vergessen, wer in meiner Familie und meinem Freundeskreis dieses Kind annehmen konnten, wie es war, und ihm Freundschaft entgegenbrachte. Es war nur eine Handvoll Menschen. Damals war das gesellschaftliche Bewusstsein noch nicht ausgerichtet auf Menschen mit anders gearteter Informationsverarbeitung, Asperger Autisten kannte keiner, ADHS wurde im gleichen Atemzug genannt wie „verzogen“ und „Kevinismus“.

2007
Es wurde besser. Tatsächlich wurde es besser, langsam erst, kaum spürbar, aber dennoch, ja.
Die Pubertät kam und während andere Miteltern aufstöhnten unter den hormonellen Verzauberungen ihrer süßen angepassten Kinder, hatte ich immer noch Sorgen ganz anderer Art. Nach wie vor erschien der Weg unseres Sohnes kaum vorhersehbar. Behindertenwerkstatt, betreutes Wohnen, dergleichen Begrifflichkeiten kamen in den Gesprächen vor, die wir Eltern führten. Gespräche, die anderen Eltern pubertierender Kinder erspart blieben. Was soll nur aus ihm werden? Wird er selbstbestimmt leben können irgendwann? Und immer wieder trotzte ich gegen die vorgegebene Norm: Mein Sohn gehört doch in keine Behindertenwerkstatt! Hallo?! Nur, weil ihr es euch leicht machen wollt mit Menschen, die im Gleichschritt neben euch marschieren? Dennoch, irgendwie wurde alles leichter während dieser viel beschriebenen, von vielen Eltern mit Schauder erwarteten, Pubertätsjahre. Mein Kind wurde erwachsen, einfach so.
Und jetzt lebe ich hier mit einem neunzehn Jahre jungen Mann, der dank Integrationshilfe im kommenden Jahr sein Abitur machen wird. Ein junger Mann, der mich neulich morgens weckte mit dem Worten, er befürchte, ich verschliefe sonst und die Kaffeemaschine habe er auch schon für mich angemacht. Ein junger Mann, der noch nie einen einzigen Tag Schule geschwänzt hat, der liebevoll und höflich gegenüber seiner Umwelt ist. Immer noch ein wenig zu sprunghaft manchmal, laut auch, aber irgendwie dennoch gereift, fertig beinahe. Jemand, der sich um Beziehungen bemüht und Freundschaften versucht zu pflegen. Der auswendig lernt, wie charmantes Verhalten geht, weil er es so gern sein möchte. Charmant, beliebt. Und dem es immer öfter scheinbar spielend leicht gelingt.
Ich sehe ihn an und das was ich fühle, versuche ich zu beschreiben, denn das ist ganz und gar wundervoll. Ich blicke auf zu ihm, er ist größer als alle Menschen in unserer Familie, sehe in seine sanften großen nahezu schwarzen Augen und denke, dass es wirklich niemanden auf der ganzen Welt gibt, den ich so sehr liebe und auf diese Weise, wie ihn. Ich bin so unendlich stolz auf ihn. Und stolz auf mich. Das ist mein Sohn! Meiner! Ich sehe einen Garten voller Blumen und Pflanzen, der gewachsen ist unter meiner Obhut und gegossen mit meinen Tränen und meiner Liebe. Dort, wo niemand fruchtbare Erde vermutet hat.
Das, was ich mir viele Jahre überhaupt nicht vorstellen konnte, ist jetzt greifbar. Ich kann mir vorstellen, was mal aus ihm werden könnte. Nämlich alles! Aus diesem Jungen, auf den kaum einer wetten wollte noch vor zehn Jahren, ist ein toller junger Mann geworden. Einfach so.

2008
Das hier geht raus an alle Kleinkindeltern, die vollkommen verzweifelt sind, weil sich ihre Kinder nicht so entwickeln, wie sie sich das vorgestellt hatten. Das hier schreibe ich für alle Eltern mit Teenagern, die scheinbar von einem Tag auf den anderen außer Rand und Band zu sein scheinen. Das hier ist für alle Mütter und Väter, die sich fragen, warum gerade bei ihnen scheinbar nichts so funktioniert, wie es in den dicken schlauen Büchern steht: Glaubt mir, alles wird gut! Und ihr werdet staunen und euch freuen, wenn ihr euren Kindern beim Wachsen und Werden zuseht. Nichts ist umsonst. Jede Aufmunterung, jedes: „Ich glaube an dich, du schaffst das!“, jedes: „Ich bin so stolz auf dich!“, und jedes: „Ich liebe dich so sehr, schön, dass du da bist!“, ist wie Dünger, Langzeitdünger für die Entwicklung eurer Kinder. Und ihr werdet es sehen, später, alles geht auf. Ihr werdet ernten, was ihr sät. Das ist das Beste, das aus Liebe entstehen kann.
„Kleine Kinder, kleine Sorgen…“, dieser Spruch war gestern. „Große Kinder, großes Glück“, das ist morgen.

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Du bist toll Rike!
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Das tut gut zu lesen. Ich bin mir da selten sicher. trial and error all the time 😉 ❤ Danke Dir. Sehr!
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Du treibst mir die Tränen in die Augen und ich sage dir Danke danke danke für diesen Beitrag. Ähnliches erlebt und erlebe ich immer noch und du machst mir gerade Mut und Hoffnung und überhaupt! Danke dir von Herzen
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Oh Du… ❤
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Danke fürs Mutmachen, ich kann es gerade so sehr gebrauchen. Dein Großer hat unfassbares Glück mit dir.
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❤ Danke Dir
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Herzlichen Glückwunsch und vielen lieben Dank für Deinen Text.
Es ist so großartig (ich mag das Wort eigentlich gar nicht, weil es zu oft benutzt wird) wie sich alles entwickelt hat.
Wichtig ist auch und vor allem, was ihr auch nicht gemacht habe, wir dürfen den Glauben an unsere Kinder nicht verlieren.
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Danke schön! :)Ich freu mich über das Feedback
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Oh Mann ich heule und heule. Mein großer Sohn ist jetzt 11 und seit er in der Schule ist haben wir es schwer miteinander. Er mit mir und ich mit ihm. Und es tut mir so leid. Und ich hoffe so, dass alles gut wird und wünschte ich könnte es so gut machen wie er es verdient.
Dein Text macht Mut und macht mich auch traurig, weil ich so unzufrieden mit mir bin, weil ich zu oft nicht den Diamanten sehe, der in ihm steckt. Denn das ist manchmal so schwer.
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Ich sitze hier und habe Tränen in den Augen, weil ich kenne, was Du beschreibst, die Elterngespräche und die Stühle und Hocker und den andauernden unterschwelligen Vorwurf. Ich danke Dir, für die Hoffnung, die mir Dein Text macht und dafür, dass Du diese eine besondere Liebe so wundervoll beschreibst, egal was alle anderen denken!!
Stephie
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Liebe Henrike, vielen Dank für diesen wunderbaren Text und das Mut machen.
Jetzt mit diesen Worten und in der Vergangenheit.
Wie du weißt, es waren/sind es bei uns „die große Kinder, große Sorgen“. Fiese Pubertät im Schleudergang. Aber ist besser geworden mit der Zeit.
Tränen beim Lesen, auch bei mir. So viel Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit.
Respekt.
Alles Liebe, Sandra
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Was für ein wunderwundervoller Text. Da geht mir das Herz auf. Was für ein Glück, dass ihr euch habt, dein Sohn und du. Dass du siehst, was in ihm ist. Dass du ihn siehst. Ihn immer gesehen hast. Das ist nicht selbstverständlich. Und das macht mir so viel Mut. Danke dafür. ❤
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Danke! Danke! Danke!
Der für mich bis jetzt einzige Text, der
Eltern zur Abwechslung mal Mut macht!
Kommt gerade wie gerufen!
Bitte wie toll ist das denn 👍🏻
Ich würde Dich dafür gerne
literweise auf nen Kaffee
einladen . Mit Torte na klar.
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Ich danke DIR für den lieben Kommentar! Alles Gute Euch ❤
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Wunderschön! Grüße von einer stolzen Mama mit noch 7-jährigem Sohn ❤
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Danke! ❤
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Gerne lese ich bei dir sporadisch mit. Wir haben kleine Kinder (8,6,3 und 1) und eigentlich allerhöchstens kleine Sorgen. Nach deiner Logik kriegen wir es dann in der 2. Hälfte der Aufzucht? Oje. Aber nein, man liest heraus – mit Liebe begleiten und abwarten. Daran will ich mich, wenn es schwierig wird, erinnern. Und dann hoffe ich, dass auch wir irgendwann mit Dankbarkeit und Zufriedenheit und Stolz auf große Kinder blicken dürfen!
Von ganzem Herzen herzlichen Glückwunsch das Ihr schon ein Kind erfolgreich große bekommen habt!
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Danke Dir für diesen lieben Kommentar und ich ziehe den Hut vor Deiner Geduld. Vier kleine Kinder – dann bist du sturmerprobt! 🙂 Alles Liebe für Dich und deine Familie. ❤
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