Gestern Abend fragen die Nachbarn beim Grillen: „Und? wie war´s in Berlin?“. Ich nicke. Und sage: „Ich will nicht drüber reden. Ich will das nicht teilen. Noch nicht. Nicht heute.“.
Ich bin noch voll Berlin…
In der vergangenen Woche hatte ich jeden Tag Migräne. Vierundzwanzig Stunden akut mit Doppelbildern, Übelkeit und Schwindel. Danach einen Tag mit diesem Katergefühl, wenn sie wieder abklingt. Und tags darauf ging das Spielchen wieder von vorn los. Ich habe mich gedopt, versucht zu schonen, hinterfragt. Stresst mich etwas? Was? Wie kann man das auflösen? Keine Ahnung.
Noch am Blogfamilia-Morgen schmiss ich mir Ibu´s rein und ließ mich zur Busstation fahren. Arschknapp, ohne Zahnbürste, dafür mit angemotzter Familie und einem Kerl, der mich darauf hinwies, dass wir superspät dran wären (was meine Schuld sei), und der dann trotzdem Umwege fuhr bis die in Berlin zu Erwartende dem Wahnsinn völlig anheimfiel und sich vor Wut auf dem Beifahrersitz gebährdete wie bei einer Teufelsaustreibung. (Weil, der kürzesten Weg, du, da sind die Straßen aber so schlecht. Da fahrn wir eben noch mal kurz zwölf Kilometer außen rum. Kann er ja nichts dafür, dass ich im Vorfeld so lange brauchte, um in die Hufe zu kommen.).
Ankunft Alexanderplatz. Hitze, laut, Menschenmassen, heiß, Gepäck schwer, welcher U-Bahn-Zugang?! Scheiße, Scheiße, keine Ahnung, keinen Plan. Gänge, Gänge, Gänge, Menschen, noch mehr Menschen, mein armer Kopf…
Dann verlaufen, Straße hoch, Straße runter, noch mal. Ich find das nicht! Ach doch, hier isses. Isses hier? Bin ich richtig? Diese irre große Stadt ist nichts für mich Provinzmädchen. Mensch, dieser Koffer! Treppen hoch. Ich bin bestimmt falsch. Hier isses nicht. Und der Schweiß läuft an mir runter! Am besten, ich dreh wieder um. Der Kuchen ist auch hinüber und überhaupt: Wer schleppt einen Kuchen nach Berlin?! Hallo? Was für ne saublöde Idee. Ach guck mal, da sind Leute… da vorn, die kenn ich doch…
Ich mag ja keine Menschenmassen. Menschenansammlungen größer drei Personen strapazieren mich. Ich fühle mich reizüberflutet, befürchte, im Gespräch die Hälfte nicht und die andere Hälfte falsch zu verstehen. Ich mag Menschen am liebsten in homöopathischen Dosen.
Dort anzukommen und sich in diese Menge zu mischen ist wie ins-Meer-gehen gewesen. Ein vorsichtiger Schritt, ein zweiter, und dann habe ich mich auf den Rücken geworfen und von den Wellen treiben lassen. Und alles war schön!
Alles war leicht. Alles freundlich, fröhlich, übermütig, glücklich. Unverkrampft. Ich entkrampfte auch. Schöne Menschen, echtes Lachen, warme Umarmungen und ein Gefühl von Angenommenheit schwabberten um mich herum. In den kommenden Stunden lachte ich laut und dreckig, haute mir auf die Schenkel, wuselte durch den Haufen und dachte keine Sekunde darüber nach, ob meine Art zu laut oder hektisch wirkte, mein Teint fettig glänzte oder meine Haare doof aussahen. Ach, und die Kopfschmerzen waren auch weg! Sieh an.
Nachts schlief ich in einem geliehenem Kinderzimmer mit Vorhängen voller wunderschöner grüner Tulpen und zum ersten Mal seit Jahren mit offenem Fenster. Morgens weckte mich das Rumpeln von Mülltonnen. Keine grölenden Besoffenen nachts, kein Verkehrslärm. Berlin, du sanfte Schlafhüterin.
Morgens der Blick in so herzliche Berliner Gesichter und ein wunderbares Frühstück und ein viel zu kurzes Berliner Frühstücksgespräch. Warmer Kaffee, warme Athmosphäre, keine Hektik. Nur Sein. Pur. Echt und unverstellt. Ich will nicht gehen! Ich will auch Berlin sein…
Ich muss gehen. Auf dem Weg zurück zur Location des Vortages sitzen die Gestalten der Nacht müde blinzelnd in der Morgensonne, während ich einen Cappuchino und ein warmes Vanillecroissant ordere. Beides schmeckt wie eine Offenbahrung. Wie das Frühstück nach einer unglaublichen Liebesnacht.
Ich sitze den Vormittag in der Sonne und beobachte schöne Menschen, die in der schönen Berliner Sonne flanieren. Ich strecke die Beine aus und rauche und fühle mich gelassen und friedlich und entspannt wie seit langem nicht.
Irgendwann komme ich mit einer Veranstalterin vor Ort ins Gespräch. Immer wieder wandern meine Blicke an dieser wunderbunten Frau entlang. Tättowierungen in allen Farben des Regenbogens, ein Rockabilly-Kleid, blauschwarz gefärbte Helmfrisur und ein wilder Lidstrich. „Ich muss sie immerzu ansehen. Sie sind wunderschön! Und dieses Kleid…“, bricht es wahrheitsgemäß aus mir heraus. Sie sieht mich liebevoll an. Sie ist Berlin. In Dresden bin ich mit sechsundvierzig Jahren zu alt für Miniröcke und Kirschohrringe, egal, wie jung mein Mädchenherz und meine Seele sind. Und hier in Berlin steht diese bunte zauberhafte Frau vor mir, mit unschätzbarem Alter zwischen vierzig und sechzig und zeigt der Welt einfach ihre junge, bunte Seele.
Ich will nicht fahren.
Als der Bus heimwärts an der Berliner Mauer entlang fährt, denke ich über Mauern nach. Echte, gefühlte. Mauern im kopf, im Denken. Und über die wunderbaren Dinge, die passieren können, wenn sie fallen, die Mauern.
Berlin, du Lehrmeisterin!
Daheim stehe ich an der Straßenbahn und sehe missmutige Menschen mit Bierflaschen als Accessoires in der Hand. Und unfreundlichen Gesichtern. Die sind eindeutig nicht Berlin!
Am nächsten Morgen schneidet mir ein Mann beim Aldi die Vorfahrt, rennt vor meinen vollen Einkaufswagen und bleibt aprupt davor stehen um sich irgendein Obst anzuschauen. „Boar, Mann, ey! Kommst du klar?!“, schnauze ich den an. Ich bin unentspannt. Ich bin nicht Berlin…
Ich will mir das Gefühl erhalten, mich erinnern. Ich will ein bisschen Berlin bleiben. Und das mit den Mauern… wichtig.
Berlin, Berlin!
„Was war das Schönste dort auf dieser Veranstaltung?“, fragt der Nachbar beim Grillen. „Die Menschen!“, antworte ich sofort.
Und von denen erzähle ich euch morgen…