Über Verstehen, Geleeöhrchen und das große Glück des Bloggens

Über Verstehen, Geleeöhrchen und das große Glück des Bloggens

Im Jahr zwanzigzwölf, also lange vor Coronamundschutzabstand, veröffentlichte ein Raggaekünstler mit dem lustigen Namen Omi ein Lied namens „Cheerleader“. Das hat im Refrain die sehr eingängige Zeile:

„Oh, I think that I found myself a cheerleader…“

Diese Textzeile ist so mitreißend, dass ich ungewollt seit nunmehr neun Jahren stets mitsingen muss, wenn das Teil im Radio läuft. Während ich im Auto sitze, zum Beispiel. Nur, dass ich seit neun Jahren exakt folgendes singe: „Oh, I think that I found myself a jelly ear…“. Für mich war das absolut schlüssig, dass jemand (Omi nämlich) einen Menschen gefunden hat, den er so süß findet, dass er ihm diesen Spitznamen gegeben hat. So wie andere Menschen eben ihre Lieben Zuckerschnäuzchen nennen oder Honigpups. Ich kam gar nicht auf die Idee anzunehmen, ich hätte da etwas falsch verstanden! So kann man sich irren.

Sachsen Ministerpräsident Kretschmer: »Die Situation ist hochdramatisch«
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer; der Blick ist situationsangemessen

Heute ist der letzte Tag vor dem vierten Lockdown in Sachsen, der jetzt „Wellenbrecher“ heißt und nicht mehr Lockdown. Damit soll das miese Image des Wortes „Lockdown“ aufpoliert werden und möglichst eindringlich allen, die das bis dahin nicht verstanden haben, begreiflich machen, dass alle Maßnahmen dazu dienen, die aktuelle „Welle“ zu „brechen“. Menschenleben zu retten!

Ich weiß nicht, ob das hilft. Also bei denen, die nicht verstanden haben, nicht verstehen wollen. Die noch immer „jelly ear“ hören.

(C) Spiegel online

Es geht ein Riss durch Deutschland. Es geht ein Riss durch Familien, auch durch meine. Menschen, die mir schon vor Jahren begreiflich machen wollten, ich sei blind, wenn ich nicht (!) gegen Merkels Flüchtlingspolitik auf die Straße gehen würde, ich sei mitverantwortlich für die steigende Kriminalitätsrate und nur die Montagsspaziergänger am Dresdner Altmarkt hätten den Durchblick und eine einzige Partei im Politikdschungel sei so mutig, zu sagen wie es wirklich ist, diese Menschen rotten sich im Klüngel zusammen. Zusammen gegen die Impfdiktatur und ein erfundenes Virus. Die selben Menschen, die mir auf Familienfeiern fröhlich entgegenriefen: „Jetzt müssen wir das Thema wechseln, die Gutmenschen kommen!“.

Meine Familie ist kleiner geworden, ich bin nun geschieden. Ich habe mich scheiden lassen wegen unüberbrückbarer Differenzen. Und obwohl ich ja noch niemals geschieden war, glaube ich zu ahnen, wie sich das anfühlt. Befreit zum einen, und zum anderen mischen sich Bilder darunter, Erinnerungsfetzen an gute Zeiten. An gemeinsame Erlebnisse mit den geschiedenen Menschen, bittersüß, vermissend, verzweifelt ein wenig, dennoch wissend, es gibt keine andere Möglichkeit. Weil die einen vom Cheerleader singen und die anderen von Geleeöhrchen.

Wellenbrecher also. Wenn ihr mich fragt, mir geht das alles noch nicht weit genug. Das ist mein persönliches Empfinden. Ich verstehe nicht, dass wir im letzten Jahr zu Hause unsere Kinder betreut und beschult haben bei Inzidenzen um ein Drittel, die Hälfte niedriger als jetzt. Jetzt bleiben Schulen, Kitas offen. Ich habe keine Lust auf Homeschooling, wirklich, wer hätte das schon, aber ich bin verunsichert über die noch immer andauernde Verunsicherung der Regierungen (Bund, Länder; alle sind mitgemeint) hinsichtlich der Angemessenheit der Maßnahmen. Ich will die meinen beschützen um jeden Preis.

Ich frage mich, was ich davon denken werde, wenn ich in zehn Jahren diese meine Zeilen lesen werde. Was wird dann sein, wie wird es sein, mein Leben? Der Blondino ist dann achtzehn Jahre alt, volljährig also. Mein Bubi gar einunddreißig. „Ich will nicht, dass der Brudi auszieht!“, sagte das Blondchen neulich, als wir zwei händchenhaltend in seinem Bett lagen, dem Bett mit der kuschligen Kinderbettwäsche, eingehüllt in seinen süßen Kinderduft nach warmem Salzkaramell, in der schönsten schwersten bittersüßesten Stunde des Tages. „Aber das dauert doch noch mindestens drei Jahre, bis der ausziehen wird. Und weißt du, das ist doch auch so, dass die Kinder irgendwann alleine wohnen wollen, oder mit jemand anderem als ihren Eltern.“, „Dann will ich auch zum Brudi ziehen, wenn der auszieht! Dann wohne ich dort bei dem.“, „Aber da wäre ich wirklich traurig, wenn du schon so früh bei mir ausziehst.“, „Aber ich bin dann schon groß und du dann alt, das ist dann so! Ich komme aber manchmal zum Schlafen zu dir.“, „Das ist schön! Und jetzt musst du die Äuglein zumachen und schlafen, und ich werde dich ganz schrecklich vermissen, weil ich dich erst in zehn Stunden wiedersehe!“, „Aber Mama, das merkst du doch gar nicht! Wenn du gleich schlafen gehst, ist es nur wie eine Sekunde, versprochen!“.

Ich weiß nicht, ob das Blondchen in drei Jahren, mit elf also, zu seinem Bruder ziehen wird. Aber ich werde das wissen irgendwann. Und in drei Jahren, in zehn, in zwanzig Jahren diese Zeilen lesen können. Ich werde dann auch wissen, wie das Jahr zwanzigeinundzwanzig geendet hat, ob wir Corona irgendwann hinter uns gelassen haben, ob ich für immer von Teilen meiner Familie geschieden bleibe.

Ich werde es wissen, weil es dieses Blöggel gibt. Weil ich vor acht Jahren begann, diese Tagebuch zu füllen, das weit mehr ist als ein Tagebuch mit Bildern. Weil ich jetzt schon mit dollem Herzklopfen manchmal die alten Beiträge lese und so unendlich dankbar bin, dass ich Stunde um Stunde aufgewendet habe, um meine Gedanken und Gefühle in Worte zu kleiden und abzutippen. Das war die beste Entscheidung, das beste Geschenk, das ich mir selbst gemacht habe, ganz ehrlich. Und die vielen Geschenke, die mir erst dadurch in den Schoß fielen. Menschen, Freundschaften, Orte, Erlebnisse, so viel Zusammenhalt, so viel Neues, Schönes.

„Das Internet ist an allem schuld!“, spricht der Beste mit seinem schönen Mund und meint damit die Meinungsverschwurbelungen der Unbeirrbaren und die aktuelle Situation. Ich weiß, was er meint. Früher stellte sich ein Experte hin und sprach, und alle hörten auf ihn, denn er hatte ja die Expertise! Heute googelt erst mal jeder zweite nach einer alternativen Meinung. Und wird fündig. Natürlich wird er das. Und nirgendwo gibt es eine Anleitung zum Denken, leider.

Das Internet ist also an allem schuld. Wenn das Internet irgendwann in Flammen aufgeht, abgeschaltet wird, dann wird mir das hier am meisten fehlen. Das Blöggel, ihr, wir. Bis dahin schreibe ich weiter. Damit ich morgen weiß, was ich heute dachte und warum ich gestern dieses tat und jenes ließ. Und damit ich mich erinnere, dass man sich manchmal verhören kann, etwas missverstehen, aber dennoch seine Haltung ändern kann, ändern sollte, immer mal wieder.

Und vor allem, bei allem Driss, damit ich mich selbst erinnern kann, was das große Geheimnis meines Lebens ist, die Antwort auf alle Fragen, die Glücksformel, der Gral. Meine Kinder. Deshalb: