Der Sound meines Lebens

Ich sitze mit dem Bubi gebeugt über meine beachtliche (und eingestaubte) CD-Sammlung und komme mir vor wie eine Omi, die ihrem Enkel alte Schelllackplatten mit den greatest hits von Marika Röck andrehen will.

Kein Mensch hört heute noch CDs, noch nicht mal ich! Internetradio in der Küche und im Auto, Streaming hier und Download da, wozu sich also irgendne Scheibe reinstecken? In ein Scheibenreinsteckgerät? CD-Player, pffff, haben die jungen Leute nicht mehr. Die haben nur winzige Telefone, aus denen die ganze Musik der weiten Welt in ihre riesigen Kopfhörer gelangt.

Es wird also Zeit, dass ich dem jungen Mann ein musikalisches Vermächtnis hinterlasse! In Scheibenform. Irgendwie muss der ja auch mal was anderes hören als seinen seltsamen Dubstep.

Ich versuche ihm zu erklären, wie toll sich das anfühlt, auf das neues Album eines Künstlers zu warten und sich dann mit den zusammengesparten Kröten die eingeschweißte CD im Laden zu holen. Meins! Er guckt mich höflich-verständnislos an.

Kurz schweife ich sogar ab und erzähle, wie damals zu DDR-Zeiten manch ein privilegierter Jugendlicher die Hit-Parade bei DT64 auf seinem SKR700-Kassettenrecorder aufnahm und die Kassetten zu horrenden Preisen verscherbelte, aber da stieg er aus. Kassettenrecorder? DDR? Ich sah es an seinem Blick, die Omi mit den Schelllackplatten musste ein paar Jahre vorspringen. Wobei, Leute, ich habe Knutschen gelernt bei der Schuldisco, zu Klängen von Spandau Balett und wisst ihr was? Es gibt keine Schuldiscos mehr! Ist das zu fassen?! Nein! Was soll nur aus der Jugend werden?

Egal. Wer hat meinen roten Faden? Ach hier, danke.

Ich sortiere dem Jungspund ohne Schuldisco-.Erfahrung meine Queen-CDs aus. Blur, Green Day, The Cranberries, Björk. Den Soundtrack zu Trainspotting, er kennt nicht nur keinen der Künstler, er kennt nicht mal den Film! Clockwork Orange, ebenso unbekannt, Musik und Film (Oh Gott, ich habe kulturell komplett versagt!). Depeche Mode kennt er, aber die CDs nehme ich mit ins Grab, Finger weg! Rosenstolz? Ein wenig schäme ich mich, aber nur heimlich, denn als die noch neu und unverbraucht waren, fand ich die echt großartig und das waren sie auch. Wir reden hier über die Neunziger Jahre, als die noch in Kneipen spielten.

Irgendwann war der Rock dann abgerockt oder ich zumindest. Ich tat mich jemandem zusammen, der Marusha geil fand und regelmäßig zur Love Parade fuhr. Damals. Musikalisch waren der Mann und ich noch niemals kompatibel. Ich meine, Techno?! Ich habe keine Techno-CDs in meiner Kiste, die ich dem Kind zur Abschreckung geben könnte.

Hier, diesen Stapel fasst du nicht an! Das ist mein Heiligtum. Eminem. Mein Gott, das war damals echt bewusstseinserweiternd für mich, seine Songs zu hören. Echt jetzt. Ich besitze, oder besaß jedes Buch, das über ihn geschrieben wurde, jedes Album (selbstverständlich), kann in „8 Mile“ als Universalkomparse eingesetzt werden und als Eminem 2003 sein einziges Konzert in Deutschland gab, hatte ich eine Karte! Ich hatte eine Konzertkarte! Dann bekam ich einen folgenschweren Brief (damals wurden noch Briefe geschrieben) mit einem Termin für ein Vorstellungsgespräch und ich habe zum ersten Mal wie ein blöder erwachsener Mensch gehandelt. Meine Freundin Sandra fuhr ohne mich nach Hamburg und rief mich aus dem Stadion an (Handies gab es schon), „KANNST DU IHN HÖREN? KANNST DU IHN HÖREN?!“. Ich hörte ihn nicht, es klang, als hörte ich zu, wie Wasser in eine Badewanne läuft. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich geheult habe…

All das erzähle ich meinem Sohn.

Der sich offenbar entsetzlich langweilt und mittlerweile die Fanta-CDs durchforstet.

Ich weiß nicht, irgendwie stirbt doch ein Stück Kultur gerade, denke ich und höre etwas splitternd zerschellen. Vielleicht war das aber nur die alberne alte Glasglocke unter der ich gehockt habe mit meinem altmodischen Musikgeschmack. Klirr!

Hm.

Schade.

Ja klar, ich fand das auch olle peinlich, wie meine Eltern Sting gefeiert haben oder Joe Cocker, nachdem sogar eine Wiese in Dresden benannt wurde, als der darauf ein Konzert gegeben hat. Im Leben hätte ich nicht die gleiche Musik wie die gehört! Aber irgendwie ist das voll bitter, jetzt da auf diese CDs zu schauen, die die Untermalung meiner letzten dreißig Jahre waren und sich klarzumachen, das ist alte-Leute-Musik! Time to face the truth.

Eminem ist fünfundvierzig, Dave Gahan sechsundfünfzig, Prince ist tot, du lieber Gott, und wäre jetzt sechzig. Und Jamiroquai, der Berufsjugendliche, ist auch schon neunundvierzig! Das kann doch alles gar nicht wahr sein. Das einzige, auf das ich mich jetzt noch freuen kann ist, dass ich nur noch ein paar Jahre warten muss und dann wird der Soundtrack im Altersheim bestimmt von The Cure gespielt. Tschakka, bis den Enkeln die Ohren bluten!

Und zum Abschluss singt jetzt nur für mich der alte Mann, mit dem ich sofort und ohne Zahnbürste und Wechselschlübbor durchgebrannt wäre, hätte ich mich nicht für das solide Leben und den sicheren Job (den ich im übrigen noch immer habe, also eigentlich beides sogar) entschieden. Damals, 2003.

 

8 Kommentare zu “Der Sound meines Lebens

  1. Ich fahre fast jeden Tag an einer Seniroenresidenz vorbei. Da sitzt im Sommer immer ein älterer Herr, körperlich sehr gut in Schuß, auf dem Balkon. Er trägt nur kurze Shorts und genießt die Sonne. Und aus der offenen Balkontür hört man aus seinem Zimmer laut Rock´n´Roll-Musik. Und da denke ich jedes Mal: Ja, in 30 Jahre bin vielleicht ich das und aus dem Zimmer hört man Depeche Mode. Und die jungen Leute auf der Straße werden dann über mich schmunzeln……

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  2. Ach, man muss sich ja nicht kategorisieren. Es darf doch ruhig alles nebeneinander existieren. Ich höre Zeug von Tom Waits über A Tribe Called Quest über Jenny Wilson über Nine Inch Nails bis zu Popshop. Und Kram, den meine Eltern früher gehört haben und Kram, den mein Mann aktuell gut findet.

    Heute morgen lief im Radio „Friday I’m in love“ und das hat mir überraschend gute Laune gemacht, deshalb kam es auf die heutige Playlist. Gleich unter Lil Kim. Also was solls 🙂

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