Über berechtigte Gephyrophobie, Kindergeburtstage 2.0 und Streichelkastanien

Um von den Kommunalwahlen in Sachsen abzulenken, hat vergangene Woche die Carolabrücke in Dresden die Grätsche gemacht. Morgens gegen drei brach der Teil, der die Tram-Schienen führt, einfach zusammen. Es grenzt mehr als an ein Wunder, dass zu der Zeit keine Straßenbahn darüber fuhr. Oder dass das Unglück nachts passierte und nicht tagsüber, wo im Minutentakt die Bahnen darüber brettern, mit Schulkindern darin. Und kleines Omis. Ich sehe die Bilder und kann das nicht begreifen. Das begreift man auch nicht.

(C) mdr.de

Außerdem ist jetzt rausgekommen, dass die Schäden an der Brücke seit 2019 bekannt waren (hier nachlesen), es aber für unseren Baubürgermeister offenbar wichtiger war, hässliche – und im übrigen nicht mal nachhaltige- Blumenkübel für über dreihunderttausend Euro aufzustellen (hier nachlesen). Das ist die gleiche Bürgermeisterei, die es auch für angezeigt hielt, achthundert funktionierende Straßenbahnhäuschen abreißen zu lassen und für dreißig Millionen Euro schick begrünte Wartehäuschen neu zu installieren (hier nachlesen). Hätte man das Geld anders verwenden sollen? Für eine Brückensanierung gar? Was weiß denn ich. Ich weiß schon lange nichts mehr. Ich erinnere mich aber in dem Zusammenhang an die Diskussion um die Waldschlösschenbrücke, deren Bau Dresden die Aberkennung des Weltkulturerbes einbrachte (hier nachlesen) und die so vehement für Streit und Unmut sorgte. Bloß gut, dass sie da ist! Nun, da Dresden jetzt wieder eine Brücke weniger für den täglichen Straßen-, Berufs- und Touristikverkehr zur Verfügung steht, ist „Stehen“ das Wort der Stunde. Tatsächlich überlege ich ich oft, dass ich mit „stramm marschieren“ sicher schneller durch die Stadt käme als aktuell. Blöd, wenn man täglich über irgendeine Brücke muss. Und doppelt blöd, da ja nicht nur die Brücke nun nicht passierbar ist, sondern ebenfalls die Zufahrtsstraße, die als Verkehrsader durch die Stadt ebenfalls super wichtig war. Der Verkehr auf die Radwege umzulegen, hat auch zum Teil zu Absurditäten geführt (hier nachlesen). Das ist keine Option.

Aber weil wir gerade dabei sind und ich so schön in Rage, heute morgen war ich Zeugin, als ein Mann mit kindbesetztem Lastenrad einen Audifahrer anpöbelte, weil dieser ihn nicht durchlassen wollte, das Schwein! Gut, der Radfahrer befand sich in einer Einbahnstraße in verkehrter Richtung und die Straße ist sicher nicht grundlos Einbahnstraße, aber der Audifahrer war ein Schwein, das war laut und deutlich zu hören. Und Verkehrsregeln gelten nur für PKWs, das weiß schließlich jedes Kind.

In meiner Lebensumgebung wohnen viele Familien mit Kindern. Das weiß ich seit neuestem. Nämlich, seit der Blondino hier zur Schule geht. Aus tagsüber wie ausgestorben wirkenden Grundstücken und Villen quellen morgens sehr zu meiner Freude kleine Menschen mit Ranzen hervor und strömen in Richtung der beiden Schulen im Einzugsgebiet. Warum man diese Wesen mit Wachstumshintergrund am Nachmittag nie sieht, entzieht sich meiner Kenntnis. Bedauerlich in jedem Fall. Ich will ganz sicher nicht zurück in die Platte – no way- , aber die Innenhöfe waren schon ein gut genutzter Kontaktort. Aber keine Ahnung, ob Kinder heutzutage überhaupt noch „zum Spielen rausgehen“.

Ach, fällt mir gerade ein: Auf unserem Schulweg zum Beispiel wären ein oder zwei Ampeln durchaus sinnvoll, was der Praxistest zeigt, vielleicht schreibe ich mal meinem grünen Baubürgermeister. Oder lieber doch nicht, dann stehen vielleicht anstatt Ampeln demnächst Blumenkübel auf den eh zu engen Wegen.

Apropos enge Wege. Wer mich letzte Woche zufällig morgens gesehen hat auf der Wägnerstraße, ich erkläre mich. Also, es regnete Bindfäden. Das anbetungswürdige Produkt meiner Lenden hatte über die Dauer einiger weniger Tage sämtliche Jacken, Ranzenhüllen und sonstiges Regenequipment in seinem offensichtlich viel zu großem Schulspind deponiert, nichts zum Verhüllen befand sich noch in unserer Behausung, und das Kind musste also mit einem Schirm los.

Nun, ich weiß ja nicht, wie eure Kinder sind, dieses ist so: Kind hält Schirm und läuft nicht. Ich nehme Schirm, Kind läuft. Kind hält Schirm, steht. Ich trage Schirm, Kind geht. Vermutlich kann es entweder halten oder laufen, dieses Kind hier. Es ist wohl defekt, aber Zeitdruck im Genick, also trage ich den Schirm über Haupt und Ranzen des Jungen und eskortiere ihn so zur Schule. Ja. Und dann Wägnerstraße, eine von vielen schmalen Wegen im beschaulichen Blasewitz, da können nicht zwei Personen nebeneinander laufen. Ich gehe – und das Bild stellt ihr euch mal genauso vor- also hinter dem Jungen und halte einen Schirm über ihn! Diese Situation erinnerte mich drastisch an alte Gemälde, wo irgendeine Durchlaucht von einer Person hinter ihr mit einem Palmwedel beschattet wird! Das war sogar für mich zu viel. Gut, auf dem Rückweg kam mir eine Mutter mit Baboe Lasterad entgegen, die einen etwa zwölfjährigen Jungen – eingequetscht wie ein Shrimp – in ihrem Lastenrad durch die Gegend fuhr. Da habe ich mich gleich besser gefühlt.

Weil wir gerade beim Thema Schule sind. Das Blondchen geht jetzt aufs Gymnasium. Das war sooo aufregend, dass er gleich nach drei Tagen eine Lungenentzündung bekam, die sich mit Magendarm, einer Ohrentzündung und einer bakteriellen Superinfektion der Haut in insgesamt sechs Wochen malades Siechtum niederschlug. Rotz und Kotz und Homeschooling! Yeah. Nein, nicht yeah. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass ich dem gymnasialen Mist nicht gewachsen bin, ich war auf einer polytechnischen Oberschule, was weiß denn ich über die Teile vom vereinigten Königreich! Ich kann gerade mal grob die Richtung auf dem Globus anzeigen, irgendwo links von uns nämlich. Schulstoff Klasse fünf? Ich muss alles googlen. Bei Mathe bin auch gleich raus gewesen, Physik versuche ich nicht mal. Das Kind musste also schnell lernen wie ein Gymnasiast zu lernen, willkommen in der Welt der Großen!

Wir haben uns auch aufgeteilt mit dem Abfragen. Ich übernehme die sprachlichen Fächer. Englisch war ja damals bei uns eine Fremdsprache, heute ist Englisch eine Bekanntsprache, und das ist gut! YouTube hat da viel bei der frühkindlichen Bildung unterstützt. Das Kindchen kann auch schon auf meine Frage, wie der Tag so war, antworten: „This goes you nothing on!“, das ist doch schon mal was. Der Mann hat mal vertretungsweise die Hausaufgaben kontrolliert, aber das ging nicht. Für den ist „guinea pig“ ein Schwein von einer südamerikanischen Insel. Der kann aber Mathe, Geografie und alles andere unwichtige Lernzeugs begleiten. Im Ernstfall müssen wir den Bubi fragen, der hatte ja dreizehn Jahre Schule, für irgendwas muss das schließlich gut gewesen sein.

Elf ist er geworden, der Blondino, auch das noch. Aber langsam versöhne ich mich mit dem Umstand, dass ich nun nie wieder ein kleines Kind haben werde! Große Kinder sind toll. Nehmen wir zum Beispiel Kindergeburtstage. Keiner heult mehr, sehr gut! Sie wollen nicht mehr bespaßt werden, sie gehen ins Kino und zocken im Anschluss Roblox.

Man muss nur gelegentlich Softdrinks und kurzkettige Kohlenhydrate liefern. Und ja, wo Licht ist, da auch Schatten. Möglicherweise (!) begab es sich bei diesem elften Geburtstag, dass eine aufsichtsverpflichtete Person, die wir alle kennen, morgens gegen halb zwei gebrüllt hat, dass wenn jetzt nicht augenblicklich Schicht im Schacht wäre, alle Kinder, die nicht hier wohnen, zu ihren Herstellern zurückgebracht würden! Jetzt! Halb zwei in der Nacht! Dann war Ruhe. Gegen freundliche Verständnis erzeugende Ansprache waren die drei Stunden lang immun. Aber keiner hat geheult, niemand eingenässt oder gekotzt, ich glaube, es war ein voller Erfolg und hey, alte Muttis machen dann eben Mittagsschlaf am Folgetag.

Keine Girlande, sondern ein Boylande (O-Ton Blondino)

Mittlerweile ist es Herbst geworden, die Heizung spinnt wie jedes Jahr und der Großsohn, der mir eben im Haus begegnete, fragt, wo ich den hinwöllte. Ihn irritierte wohl der Umstand, dass ich Pulli und Jacke trage im Homeoffice. Herbst. Aber ich habe Handtaschenkastanien in allen Jacken! Ihr habt doch auch alle Streichelkastanien in den Taschen, oder? Voll schön ist das. Und Lampionblumen. Und Tee mit Zimtgeschmack. Und Duftkerzen. Und Kekse. Und dicke Suppen. Man muss sich den Herbst nur lange genug schön reden, dann wird der auch schön. Damit beschäftige ich mich jetzt bis es Zeit wird, die Weihnachtsdeko hochzuholen. Damit, und Kastanien zu streicheln.

Schnell noch zwei Unterhaltungstipps. Lesen: „Wellness“ von Nathan Hill, absolut grandios! Und Amazon gucken, und zwar: „Expats“, ein Drama mit Nicole Kidmann über das Leben in Hongkong.

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4 Kommentare zu “Über berechtigte Gephyrophobie, Kindergeburtstage 2.0 und Streichelkastanien

  1. Fahrer kindbesetzter Lastenräder sind auch auf Radwegen der Entgegner. Die Dinger haben offensichtlich, genau wie ein Mercedes, eine eingebaute Vorfahrt…

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  2. Dann gebe ich mal den Spruch unseres 11jährigen zum Brückeneinsturz für dich zum besten, denn der sagte nach der merkwürdigen Radiomeldung am Morgen: „Schade, dass nicht die Waldschlösschenbrücke eingestürzt ist, dann hätten wir jetzt den Weltkukturerbetitel wieder …“

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  3. Liebe Frau Nieselpriem, das haben Sie wieder sehr schön geschrieben und dass mit den Kastanien stimmt zu 100%. Ich habe auch bereits die ersten diesjährigen auf Jacken- und Hosentaschen verteilt.

    Herbstesgrüße Katharina K.

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