Schwein gehabt

„Schwein haben“ – das unerwartete Glück. Die Redewendung „Schwein haben“ lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Demnach erhielt bei Wettspielen der Verlierer als Trostpreis ein Ferkel. „Der hat Schwein gehabt“, bedeutet demnach, jemand hat unerwartetes und unverdientes Glück gehabt.

Der Bärtige fährt seit Jahren mehrmals die Woche über eine bestimmte Kreuzung in Dresden. Meist sitzt er dabei auf dem Sattel seines Rades – eigentlich fast immer- und hat die Knöbbel der Kopfhörer im Ohr.

Vorgestern war er rein zufällig nicht mit dem Rad unterwegs über diese Kreuzung, sondern mit unserem SUV, der eigentlich meiner ist, da der Mann als Ausgleich zu meinem ökologischen SUV-Fußabdruck alles mit dem Rad fährt. Dor guhde.

Die Diskussion um Sinn und Unsinn derartiger Panzer im Stadtverkehr ist mir bekannt. Warum ich selbst dieses Auto so unbedingt wollte, ist schnell erklärt: Groß musste es sein wegen dem Köter und seiner Kofferraumbox und groß, weil ich einmal (!) im Leben nicht ständig nach oben schauen wollte, ich Zwergenfrau. Abgesehen davon sehe ich eigentlich nur noch SUVs. Oder Fiat 500.

Dieser unnütze Tiguan, mein lieber „Dieschor“, hat dem Mann vorgestern das Leben gerettet.

Wir stehen noch immer unter Schock, noch immer kommen mir Gedanken wie, was wäre, wenn er mit dem Rad gefahren wäre, oder ein Fiat 500 vor ihm an der Ampel gestanden hätte und der als erstes losgefahren wäre, drin eine Mutter mit zwei Kindern auf der Rückbank…

Schweig still, mein Kopf. „Das musst du dir mal vorstellen!“. Nein, stell dir das nicht vor. Stell dir das nicht vor!

Ich habe das schon mal erlebt. Meine Eltern sind mit meiner Schwester in den Urlaub gefahren, 1990, und dort nie angekommen. Shit happens. Mein Vater tot, meine Mutter so schwer verletzt, dass ich – zwanzigjährig- für ein Jahr die Vormundschaft für meine auch schwer verletzte zehnjährige Schwester übernehmen musste.

Wenn dem Bärtigen was passieren würde, ich würde nie wieder aufhören können zu weinen. Ich kann es mir leider vorstellen. So wie meine Mutter seit dreißig Jahren in einer Parallelwelt lebt und lacht und irgendwie macht, und innerlich weint und schreit und sich noch immer die Haare ausreißt. Neben ihren Kindern und Enkelkindern herlebt und doch nicht da ist.

Ich weiß nicht, ob es dieses „Karma“ gibt, weiß nicht, ob alles ein Nullsummenspiel ist, weiß nicht, ob mir Kummer erspart bleibt, weil ich immer am Pfandautomaten auf „Spende“ drücke, nie an einem Straßenzeitungsverkäufer vorbeigehe, ohne Geld in seinen Becher zu tun, immer mit offenem Herzen auf alle Menschen zugehe, ich weiß es nicht.

Der Mann ist schon oft dem Tod von der Schippe gesprungen. Er hat in einer Großküche ein Starkstromkabel von einem Herd durchgesägt, bei dem dreihundertachtzig Volt anlagen. Er hat mehrere Sportunfälle gehabt, die einzeln für sich schwer genug waren, um ihn ins Jenseits zu befördern, er hat ein Auto auf der Landstraße in den Graben katapultiert, an der einzigen Stelle der ganzen verdammten Landstraße, wo eine Lücke zwischen den Pappeln war, dass ein Auto hat durchpassen können…

Happy serendipity, glücklicher Zufall, Schwein gehabt.

Unter dieser Gedankenwolke ist es fast nebensächlich, dass wir uns jetzt irgendwie ein Auto besorgen müssen, finanzieren natürlich, denn (Überraschung!) wir haben nicht mal eben die Kohle für ein vergleichbares Auto hier rumliegen. Und auch keinen Zweit- oder Ersatzwagen. In vier Wochen fährt der Bärtige zur Kinderreha mit dem Blondino, da muss er ein Auto haben.

Aber er kann zur Reha fahren! Er ist hier, hier bei mir. Was habe ich für ein Schwein, und das ist kein Trostpreis, das ist der Hauptpreis! Aber bis dahin schließe ich den Mann jetzt ein. Der geht mir nicht mehr aus dem Haus.

Und ihr seid bitte vorsichtig. Keine laute Musik im Auto, keine Kopfhörer auf dem Fahrrad, versprecht mir das. Und versprecht es vor allem euren Familien.

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3 Kommentare zu “Schwein gehabt

  1. orr Rike, ich heule. Und erzähle meiner großen Tochter zum wiederholten Male, dass es einfach dumm ist, mit Kopfhörern und ohne Helm zu fahren.

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  2. Hallo,

    auweia ist das ein schlimmes Erlebnis! Da freut man sich gleich mit, dass es den Bärtigen noch zum einsperren gibt! Aber zweimal rumsperren! Gibt es eine gofundme-Aktion, wo man vielleicht was zu Finanzierung des Ersatz-Autos beitragen könnte? Oder irgendwie eine andere Möglichkeit zu helfen?

    Ganz liebe Grüße und viel Glück dass das Zittern bald nachlässt

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