Leben und Lassen – im Juli 2022

Heute ist Schwitzwoch, der zwanzigste Juli, und im Talkessel der Stadt Dresden hat man vierzig Grad gemessen. Vierzig Grad im Schatten, das ist so warm, da verzieht sich sogar der Hund.

Mit Hund ist die Freizeitgestaltung rasch erzählt: Man steht eigentlich permanent irgendwo in der Pampa rum und ruft den Hund. Und das Kind. Und dann wartet man und ruft wieder, und wartet. Rufen und warten, immerzu. Das war´s auch schon im Groben.

Vierzig Grad im Schatten, das Schuljahr ist vorbei und der Ranzen hängt nach dem Sauberschrubben auf dem Gartenzaun zum Trocknen. Da bleibt er jetzt für die nächsten fünf Wochen. Es gibt ja so Menschen, die in den Ferien Schulprojekte machen und Kinder, die Lernarbeitsbücher mit Malfolgen durcharbeiten oder Ferientagebücher schreiben. Und es gibt uns, wir popeln sechs Wochen am Pool und spitzen die Stifte am Sonntagabend, zehn Stunden vorm Schuljahresstart.

Neulich lag ich in der Wanne, die Hände auf meinem Bauch, und dachte darüber nach, dass ich mich irgendwie gar nicht mehr daran erinnern kann, wie es sich anfühlt, schwanger zu sein. Ich meine, wie kann man das vergessen?! Okay, die erste Aufregung nach der Ankündigung, das Hineinhorchen, das habe ich nicht vergessen, aber ansonsten? Pure Verdrängung wahrscheinlich.

Vor neun Jahren war es um die Zeit auch vierzig Grad heiß, ich hatte dreißig Kilo Übergewicht und einen Klumpfuß aufgrund zweier gebrochener Zehen. Das war die Situation, die ich später unter dem Titel „Walgesänge in Brandenburg“ therapeutisch verarbeitet habe (ihr könnt das nachlesen, müsst ihr aber nicht, wie schreiben keinen Aufsatz darüber). Da war ich ganz sicher keine glückliche Schwangere, keine strahlende. Auch nicht trotz Aussicht auf Sonnenuntergänge.

(mögliche Bildunterschrift: Wenn du nicht sofort die Kamera weglegst, zieh ich dir die Krücke über den Nischel, mein Freund!)

Heute nun wiege ich exakt dreißig Kilo mehr als das Fortpflänzchen, das ich damals ausgebrütet habe. Ich bin mit dem Ergebnis mehr als zufrieden (dem Kind, nicht meinem Gewicht) und im Großen und Ganzen auch mit dem Umstand, dass keine weiteren Genexperimente aus dem Konglomerat Bärtiger plus Nieselpriemchen entstehen werden (manchmal nur frage ich mich, was für eine wilde Hilde wohl unsere Tochter geworden wäre, hätten wir eine gehabt).

Neulich fragt das Kleinste: „Mama, bin ich eigentlich kratzi?“. „Kratzi, was meinst du?“. „Na guck, so!“, spricht es und hält mir das Buch der drei ??? hin.

Ich erkläre ihm, dass er auf jeden Fall absolut kratzi sei – und zack! – Lieblingswort des Monats gefunden!

Die Erkenntnis des Monats habe ich auch schon gefunden. Ich stand im PKW sitzend wartend an der Ampel (ich stand sitzend, das geht auch nur im Deutschen…) und beobachtete den „drobs-Verkäufer vor dem NETTO, vielmehr beobachtete ich mit steigendem Widerwillen die Personen, die in den NETTO gingen beziehungsweise aus dem NETTO kamen, und an dem Mann mit den Straßenzeitungen vorbeigingen, ohne ihn zu beachten. Sie kauften keine Zeitung, sie legten nichts in den Becher, sie ignorierten ihn vollends. Ich zählte dreizehn Leute. Ich war so wütend! Alles wird teurer, ja, aber auch für die Ärmsten! Was stimmt nicht mit dem Menschen, fragte ich mich mal wieder und schwor, auf dem Rückweg anzuhalten. Wenig später fuhr ich auf demselben Weg zurück (ich hatte den Mann eingesammelt), und vergaß über ein (vermutlich) belangloses Gespräch mein hehres Unterfangen. Zu Hause in meiner Küche dann fiel es mir ein und auch die Erkenntnis, dass es nicht leicht ist, meinen hohen moralischen Grundsätzen gerecht zu werden. Noch nicht einmal für mich selbst. Ich muss da morgen noch mal hin…

Reingezogen und für gut befunden – im Juli

„Borgen“ hat bewiesen, dass die zweite Staffel durchaus besser als die erste sein kann (und die fand ich auch schon super),

„Ozark“ hat „sons of anarchy“ als Lieblingsserie abgelöst (und die hatte vorher „breaking bad“ abgelöst),

„25 km/h“ hat bewiesen, dass alle Filmprojekte mit Bjarne Mädel sehenswert sind und der deutsche Film nicht tot ist, und

„andere Eltern“ war eine sehr amüsante zweite deutsche Überraschung für mich.

Gelesen und gemocht habe ich:

Weil wir gerade bei „reingezogen“ waren. Gesunde Ernährung wird ja auch im Sommer groß geschrieben. Da man bei der Hitze lieber was Kaltes und Leichtes zu sich nehmen soll, nehme ich regelmäßig kalte Kuchen und leichte Törtchen. Die Fotodokumentation lügt nicht.

Noch zehn Tage arbeiten, dann gehts an die polnische Ostsee für uns. Ich habe ein wenig Bammel, nachdem mir mehrere Personen erzählt haben, Kolberg sei eine Mischung aus Balaton und El Arenal, und der Mann und ich mögen weder das Eine noch das Andere besonders.

Kennt sich wer aus und möchte seine Meinung kundtun? Bitte, nur zu. Ich weiß ja nicht, ob ihr das wusstet, aber wir sind hier „indornäschonnel“, ich hab da mal einen screenshot gemacht aus der Statistik. Es liest auch offensichtlich mindestens eine Person aus Polen hier mit (okay, aus Costa Rica und Südkorea sind es genauso viele), die werde ich besuchen fahren! Wenn´s in Kolberg zu voll ist, dann fahren wir die polnischen Leser:in besuchen – abgemacht! Bitte mal Handzeichen, bei wem wir klingeln sollen!

Jetzt bleibt mir nur noch, euch einen kratzi Sommer zu wünschen, viele kleine Glücksmomente und viele kühle Törtchen. Und ihr geht nicht achtlos am „drobs“-Verkäufer vorbei, ja? Denkt immer dran, ich sitze im Auto stehend an der Ampel und beobachte euch!

(c) dreamies.de

15 Kommentare zu “Leben und Lassen – im Juli 2022

  1. Bei dem Absatz „polnische Ostsee“ musste ich lachen… man mag sie oder hasst sie. Wir sind mal wieder hier, neben Kolberg, in nem ruhigen Nest, welches wir von Vorjahr kannten.
    Warum mögen wir polnische Ostsee? … nicht so überlaufen, wie die deutsche, weeeesentlich günstiger (als Azubi achtet man sehr auf die Preise – nur Achtung, Butter und Milchprodukte kosten mehr als in Deutschland – ähnlich wie das Bier in Dänemark), Landschaft ist wesentlich schöner und irgendwie… tja irgendwie sind die polnischen Nachbarn bisschen entspannter. Halli galli ist hier on vogue (auch in Kolberg) aber man kann dem gut aus dem Weg gehen. Liebe Grüße aus unter dem Vordach unseres Zeltes von einer Mama, die gleich augenrollend ins rückenunfreundliche Familienbett kriecht und trotzdem froh ist, hier zu sein 🧘‍♀️

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  2. Belgien 🇧🇪 ist beleidigt dass wir nicht gelistet sind.
    Kolberg ist fein, wir haben uns in das Portowa 28 verliebt, wenn einem nicht nach Strand ist. An der ganzen polnischen Küste gibt es tolle Waffeln mit Obscht und Pierogi manchmal auch.

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  3. „indornäschonnel“ (oder so) kommt im österreichischen nicht vor, ich verkrampfe alle Zellen im Dachgeschoß und kann mir nur vage Deine nördlich-schwesterlichen Ausführungen zusammenassoziieren… Ich danke mit meinen anderen 95 ÖsterreicherInnen für Deine frische Nachricht. Wir schwitzen mit in Graz. Ich drück Dich unbekannterweise, Du bist eine zum Drücken. Regina.

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    • Ich drück Dich zurück, Regina! So richtig schön verschwitzt 😀 liebe Grüße nach Graz und grüße mir auch die anderen 95 Österreicher:innen (ihr kennt euch doch bestimmt alle untereinander)

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  4. Hallo Rike, ich krieg‘ mich gar nicht wieder ein, dass ich, als gebürtige Sächsin“ , das Wort „indornäschonnel“ gefühlte 10mal durchlesen musste, eher es auch in der hintersten Gehirnwindung angekommen ist. Bei der „Dämmse“ auch kein Wunder. 🙂 In Kolberg waren wir vor 6 Jahren und wir fanden es damals wunderschön. Unser Hotel war direkt am Strand aber ziemlich weit abgelegen von dem ganzen Trubel, deshalb sehr angenehm. Wir waren auch schon in Misdroy, das war für uns der blanke Albtraum. Nur Trubel und Rummel den ganzen Tag, einfach furchtbar. Der Ranzen geschrubbt auf dem Gartenzaun einfach nur vorbildlich! War hier genauso. 🙂 Das Bild mit Krückstock, … nein, Gehhilfe, Babybauch und Gehgipsfuss geht in Eure Familiengeschichte ein. Du armes Mädel…..
    Ich wünsche Dir einen schönen Urlaub!
    Herzliche Grüße , Grit.

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  5. Oh oh, ihr mögt Malle von der Partyseite her nicht und da fahrt ihr ausgerechnet an die Polnische Ostsee? In der Hochsaison trifft sich dort die gesamte polnische Bevölkerung und feiert…..Party. Ein einziger Rummel Tag und Nacht. Ich habe das im vorigen Jahr erlebt, keine Maskenpflicht nirgends und ein Geschubse und Gedränge. Ich bin einiges gewöhnt in Berlin, aber das war alles andere als erholsam. Der Witz: meine polnische Freundin meinte, sobald die Schule beginnt, ist hier Tote Hose. Ich kann euch nur dringend empfehlen, nehmt die Räder mit. Einfach raus aus dem Getümmel und dann sieht es aus wie im Prospekt. So habe ich das dann gemacht. Viel Spaß und einen schönen Urlaub. Ihr packt das schon.

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    • Hui, das haben wir einfach nicht bedacht. Wir standen auch mit dem Rücken zur Wand, es gab keine Ferienhäuser mehr in DK oder D, wo wir alle reingepasst hätten samt Puma, da war das so eine Kurzschlussreaktion. Ich bin jetzt gewarnt, wir sind im Hotel, mal sehn, wir wir das hinkriegen. Wird schon! Es ist schließlich unser Urlaub! Das machen wir uns schön 🙂 Räder ist noch mal ne Überlegung… danke dir! ❤

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  6. Oh, „The casual vacancy“ habe ich auch gelesen und fand es ziemlich heftig – aber gut, deshalb habe ich im Vertrauen auf deinen Lesegeschmack nun das zweite geordert und hoffe, ich mag es auch. Seit Wochen habe ich nämlich das Problem, dass die Lieblingsautoren leergelesen sind und noch nicht wieder liefern und ich einfach nichts finde, was mich richtig fesselt. Hoffentlich wird das jetzt anders 🙂

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    • Hast Du „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“, gelesen? Fand ich auch zauberhaft und fesselnd. Oder „Stay away from Gretchen“. Ansonsten die Clifton-Saga für den Sommer? Mein Lieblingsautor ist Jo Nesbo, und wenn ich Glück habe, bringt der jedes Jahr im Herbst eins raus… ich muss also auch warten.

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      • Die Clifton-Saga ist schon durch 😊 War toll. Die anderen werde ich sofort anschauen, wie gut dich gefunden zu haben (aus verschiedensten Gründen)!

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  7. Hach, der Hund! *spontanverliebt*
    Wir waren mal von Weihnachten bis Sylvester in Kolberg. Zu Weihnachten 12 !!! Gänge Menü ohne Fleisch und Sylvester sehr viel hochprozentiges. Sehr ruhig & gemütlich.
    Wir waren im März in Radebeul, direkt im Weinberg mit Blick auf die Stadt und die Elbe, und natürlich auch in Dresden. Immer eine Reise wert!
    Schöne Ferien!!!!

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