Die zweiten zwölf Jahre

Ach, ich wäre manchmal gern die Mutter von Dieter.

Ihr erinnert euch?

„… Guck dir den Dieter an, der hat sogar ein Auto!“

Dieter ist sparsam und haut nicht gefühlt zweihundert Euro in zwei Wochen auf den Kopp – für Döner! Dieter weiß mit Sicherheit, dass im Dezember Weihnachten ist und seine Eltern auch irgendwann Geburtstag haben und es gesellschaftlich verbrieft ist, dass man (meint: auch Jugendliche mit Zugang zu Taschengeld, für dessen freizügige Überlassung die armen gebeutelten Eltern im Steinbruch schuften; oder in irgendwelchen IT-Buden) da ein Präsent überreicht. Eine einzelne Rose von mir aus für drei Euro, irgendwas! Aber das Geld ist ja immer alle. Außer bei Dieter.

„Junge!“

Was haben wir gelacht, wir alle, als die Ärzte 2007 diesen Song raus brachten. Was für ein Spaß! 2007 war ich Einkindmutter und das süße Frätzelchen wurde gerade eingeschult. Meine eigene Pubertät lag noch nicht so lange zurück, als dass ich mich erinnerte, dass meine Eltern einfach doof waren. Mit meinem Vater hatte ich überhaupt keine Gesprächsbasis und meine Mutter flehte mich nur immer an, ich möge doch bitte nicht so verlottert in der Gegend rumlaufen! Die Nachbarn! Das Gerede!

„… Und wie du wieder aussiehst, Löcher in der Hose, und ständig dieser Lärm (Was sollen die Nachbarn sagen?). Und dann noch deine Haare, da fehlen mir die Worte! Musst du die denn färben?“

Und so zog ich abends los mit einem Beutel. Irgendwo um die Ecke vom Neubaublock meiner elterlichen Behausung versteckte ich mich in einem Keller und zog mich um: schwarze sackartige Klamotten, aus gefärbtem Bettleinen selbstgenäht, dicker schwarzer Kajal um Augen und Mund und dann die Kernseife. Kurz anspucken und die Hände dick einseifen. Mit diesen Händen wurde dann das halblange Haar nach oben toupiert. So verkleidet ging ich dann los.

„… Nie kommst du nach Hause, wir wissen nicht mehr weiter… Junge, brich deiner Mutter nicht das Herz.“

Und nun bin ich in der gleichen Rolle wie meine Mutter vor dreißig Jahren und mache mir dieselben Sorgen! Angst vor Drogen und frühen Schwangerschaften. Angst vor Gewalterfahrung, Zukunftsängste.

„… Wo soll das alles enden? Wir machen uns doch Sorgen… Und du warst so ein süßes Kind, und du warst so ein süßes Kind. Du warst so süß…“

Ich glaube, Kontrollverlust ist das Thema, das diese Zeit aus der Gefühlswelt von uns Eltern am ehesten zusammenfasst. Über all den Gefühlen, die uns befallen, wie ein Regenschirm spannt. Die Kinder nabeln sich manchmal grausam plötzlich und rigoros ab und oft sind ihre Versuche, sich allein in der Welt zurechtzufinden für uns Alten entsetzlich naiv, gefährlich, dumm und überhaupt nicht erwachsen.
Und dann stehst du irgendwann da und sagst diesen Satz, diesen furchtbar bescheuerten Satz, den schon Generationen von Eltern vor dir sagten:

„Was haben wir nur falsch gemacht?!“

Und die Antwort ist ganz simple: Gar nichts! Das Kind hat Pubertät und da musst du nun durch. Das habt ihr alle, als Familie quasi. Und was nun? Wer tröstet dich, wer nimmt dir die Angst, die Ängste? Bücher vielleicht? Ja, das kannst du probieren. Ich habe die alle in die Ecke gepfeffert, gebe ich zu. Ich habe mich niemals verstanden, gestützt und unterstützt gefühlt nach dem Lesen eines Ratgeberbuches! Denn noch immer bin ich der Meinung: Ratschläge sind auch Schläge, ganz besonders in Erziehungsfragen und diese Bücher benutze ich allenfalls zum Stabilisieren eines kippelnden Tisches. So. Wobei ich die Autoren in Schutz nehmen muss, sie sind diesbezüglich natürlich in der ihnen vorgedachten Rolle! Ein Experte schreibt entsprechend seiner Expertise ein Buch, das in verständlichen Worten wiedergibt, woran er jahrelang geforscht und evaluiert hat und was die Grundpfeiler seiner Expertenschaft ausmacht. Nur: Mir half in der Vergangenheit nichts von alledem. Mein Sohn passte in keines der skizzierten Schemen und nirgendwo in den schlauen Büchern fand ich Trost und Hilfe.

Also habe ich mich gefragt: Was könnte denn trösten? Was könnte wirklich helfen? Nun, mich tröstet es zu wissen, ich bin nicht allein! Die Gewissheit, dass nichts, von dem, was ich an Problemen durchmache, exklusiv ist und „noch niemals dagewesen“, das tröstet mich. Mich tröstet die Ehrlichkeit einer anderen Mutter, die sich offenbart, dass sie mit (den gleichen oder ganz anderen) Problemen rund um die Pubertät an ihre Grenzen gelangt. Und Schreiben hilft mir. Das ist (für mich zumindest) eine gute Möglichkeit, sich mit Dingen zu beschäftigen und gleichzeitig Abstand zu bekommen. Wenn die Sätze geordnet über die Tastatur gegangen sind, ist vieles danach auch am Entstehungsort der Sorgen sortiert.

Blogger schreiben Blogs. Elternblogger schreiben über ihre Kinder, über ihr Leben als Eltern.

Ist euch mal aufgefallen, dass in epischer Breite alle Gefühle, Begebenheiten und das Drum und Dran der ersten – sagen wir mal – zehn Jahre der Kinder beschrieben wird?! Schwangerschaft, Geburt, Stillzeit, Kindergartenzeit, Schuleinführung. Dann werden die Berichter schmaler, die Fotos seltener. Gibt es etwas nichts mehr zu berichten von den Kindern? Läuft alles wie am sprichwörtlichen Schnürchen?

Mitnichten!

Die Stille, in die sich „die zweiten zwölf Jahre“ hüllen ist allerdings mehr als verständlich. Denn – spätestens dann – wird uns klar, das Kind hat eine eigene Persönlichkeit, die es vor öffentlichem Zugriff oder Anteilhabe zu schützen gilt (eigentlich auch schon von Geburt an, aber das klammern wir ja gern aus. Auch ich). Die Kinder haben ab einem gewissen Alter oft auch eine eigene Netzpräsenz in diesem Internet und wollen verständlicherweise nichts über sich lesen! Schon gar nicht Problematisches!

Okay, auf der einen Seite gibt es also Eltern, die verunsichert oder wütend sind und ihre Kinder nicht mehr verstehen und auf der anderen Seite Bücher von Experten, geschrieben für die große Allgemeinheit. Und dazwischen gibt es nichts. Außer Selbsthilfeforen vielleicht noch.

Wie wäre es, wenn es einen Beichtblog gäbe, einen Mitmachblog, eine Plattform, wo jeder Mensch, der sich von dem Thema angesprochen fühlt, anonym mit anonymisierten Kindernamen seine Geschichte erzählen kann. Ob Blogger oder Leser, Mutter oder Vater, Pflegevater oder Stiefmutter, ganz egal. Zwei Effekte verspreche ich mir: Zum Einen ist es durchaus denkbar, dass durch das „Aufschreiben“ für den- oder diejenige schon ein wenig der Druck „des Problems“ abfällt. Durch ermutigende Kommentare der Leser(innen) könnte eine Gemeinschaftsgefühl entstehen und möglicherweise gibt es aus den Kommentaren auch praktische Hinweise aus ähnlich erlebten Situationen. Menschen, die „nur“ lesen sollen sich verstanden fühlen in ihrer Unsicherheit in diesen Zeiten.

Das ist der Gedanke dahinter. Ob es klappt? Wir werden sehen. Wir werden sehen, ob es Eltern gibt, die von sich erzählen wollen. Ich werde (auch mit Pseudonym) etwas über unsere Probleme schreiben, aber hauptsächlich biete ich einfach nur die Plattform. Dieser neue Blog ist nicht „mein Blog“!

Ich suchte schon vor vielen Jahren nach einer Möglichkeit, mich zu Pubertätsproblemen auszutauschen. Mein ältester Sohn ist achtzehn, die Kinder der meisten Elternblogger deutlich jünger. Natürlich war ich aus diesem Grund an diesem Thema näher dran! Oder eher als andere Eltern nah dran! Denn dass wir alle irgendwann an diesem Punkt stehen und nicht mehr wissen, wie wir mit bestimmten Situationen umgehen sollen, ist sonnenklar und vorbestimmt. Von der ersten Geburtswehe an!

Ich sprach schon vor vielen Jahren mit Anna über die Möglichkeiten, das in einem Blog abzubilden. Vor kurzem dann stieß Susanne dann das Thema mit einem Blogbeitrag und einer Diskussion bei Facebook an. Nina und Séverine bekräftigten, dass diese Idee zumindest mal versucht werden sollte, und here we go.

Wir versuchen das einfach mal.

12 Kommentare zu “Die zweiten zwölf Jahre

  1. Pingback: 365 days of Blogging– 26 | Ich lebe! Jetzt!

  2. Pingback: „Frei“-Tag – Nieselpriem

  3. Was fuer eine großartige Idee! Leider finde ich aber gar keinen link (und auch kein Bild) – weder auf Handy noch auf dem Rechner. Koenntest Du ihn bitte nochmal schicken? Dankeschön!! Ich freu mich aufs Lesen!
    Lieben Gruß, Lisa

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    • ….da war ich zu schnell….habe gerade deinen neuen beitrag gelesen. ich druecke die daumen, dass das irgendwann doch klappt und freue mich bis dahin auf die beiträge hier! lieben gruß nochmal!

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