Irgendwas ist immer

„Irgendwas ist immer“, sagt der Kollege neulich und ich bin an meine Oma erinnert, die diese Aussage stets mit den Worten: „Unter jedem Dach ein Ach“, umschrieb.

Ja, irgendwas ist immer. Und überall. Jeder noch so hell erstrahlende Mond hat eine dunkle Seite. Manchmal erahnt man dies, manchmal sieht man sie, die dunkle Seite, und manche Monde scheinen gar keine Schattenseite zu haben. Scheinbar.

Mit den Fotos von fremden Bloggerfamilien ist das auch so. Wenn man die betrachtet, erhascht man einen winzigen Ausschnitt aus dem Leben, sieht dampfende Suppenschüsseln, lachende Kindergesichter, blühende Gärten und bunte Glückseligkeit. Schön ist das. Ich mag das sehr! Das ist wie ein Spaziergang in der Adventszeit, wenn ich kaum den Blick abwenden kann von den bunten Fenstern, in denen manchmal die Lichter des Weihnachtsbaumes zu erkennen sind und aus denen wohlige Gerüche von Gänsebraten und Plätzchen strömen.

Dennoch. Ich weiß nichts von den Menschen, die hinter diesen schönen Fenstern mit den Wohlgerüchen leben. Allenfalls habe ich eine Fantasie dazu, meine sie müssten bestimmt glücklich sein, diese Menschen. Mit so schönen Fenstern!

Bei Instagram gibt es den Hashtag #fürmehrrealitätaufinstagram, und ich benutze den selbst, nur glaube ich, dass er den Sinn, den er suggeriert, ad absurdum führt. Denn zumeist steht er unter Fotos, die sehr bemüht tun, das „Heile-Welt-Bild“ zu unterwandern und dennoch genau diese heile Welt abbilden. Irgendwie. Wenn ich als kinderloser Mensch mit Kinderwunsch müde zerzauste Mütter sehe mit Kindern an der Zitze und darunter „#fürmehrrealitätaufinstagram“ lese, macht das was ganz anderes mit mir, als wenn ich mich vor meinem wütend brüllenden Kleinkind auf dem Klo verstecke und einen Moment lang bei Instagram rumwische und ebendieses Foto sehe.Um den Kontext zu beschreiben, braucht es Worte, ehrliche. Ein Bild, ein Foto, spiegelt stets nur die Fantasie des Betrachters. Das heißt nicht, dass sie nicht „wahr“ wären, diese schönen Bilder. Das heißt, dass sie nur einen Bruchteil des Ganzen abbilden. Nicht mehr.Möglicherweise habe ich das ganze Wochenende über den Umstand nachgedacht, dass ich jetzt wieder arbeiten gehe, nach einer sehr langen Zeit, in der ich krank war. Und wie das so ist. Dass ich mich furchtbar schäme, auch wenn ich weiß (!), dass das weder nötig noch angebracht ist. Dass ich mich schäme, als sei an mir etwas Widerwärtiges, Obszönes, das für jedermann offensichtlich ist, weswegen ich mich eigentlich verstecken will. Oder weglaufen.Furchtbare Versagensängste plagen mich, ich kann das nicht, ich habe alles vergessen, ich bin so unnütz, mein Kopf surrt, mein Herz flattert panisch wie ein Vogel, den man an den Füßen festhält.Ich vermeide den direkten Blickkontakt aus Angst, mein Gegenüber könnte in meinen Augen die liegengebliebenen Reste der unbeschreiblichen Verzweiflung, des Siechtums sehen, die mich monatelang im Klammergriff hielten. Als sei ein Image meiner Dämonen sichtbar, wie ein schlieriger Film auf einem Fenster. Wenn man nur genau hinsieht…Von all dem wissen meine Kollegen nicht. Ich bin aufgeregt, hektisch, lache zu laut und schnattere. Naak, naak, naak. Und weiche dem direkten Blick aus. Ich versuche, „normal“ zu wirken. Mehr nicht.All dies ist so anstrengend, dass ich nach einem lächerlich kurzen Moment auf Arbeit – in einem freundlichen vertrauten Umfeld – nach Hause fahre und zwei Stunden schlafen muss. Weil ich völlig erschöpft bin. Wovon? Ich weiß es nicht.Diese Erschöpfung war eines der ersten Zeichen, damals, im letzten Jahr. Und sie wird als eines der letzten Symptomen wieder verschwinden. Zusammen mit den kognitiven Einschränkungen. Ich kann mir nichts merken, habe alltägliche Dinge vergessen, bsss bsss, irgendwelche Zellen oder Synapsen sind in meinem Kopf durchgeschmort und müssen erst wieder neu wachsen.Ich hoffe zumindest, dass sie das tun!

Inständig.Meine Gedanken sind wie eine Horde Affen, die kreischend in meinem Kopf umherspringen, bis mir schwindlig wird. Das ist die größte Angst von allen, dass das nicht wieder gut wird! Alles wird gut. Am Ende. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht blabla. Aber stimmt das denn? Oder ist am Ende nicht nur noch mehr Dunkelheit? Wird das Licht einfach immer weniger? So wie der Sand in einer Sanduhr?Ich kann den Sand rieseln hören, manchmal, und dann in diesen Momenten, glaube ich hören zu können, dass nur noch ein paar wenige Körner in dem Glas sind. Das sind die Momente der Erschöpfung, in denen meine Muskeln zittern und ich ein Flimmern vor den Augen habe und denke, das war´s. Das wird nie wieder gut. Oder?!Diese Gedanken denke ich, während diese Fotos entstehen. Nicht ausschließlich, nein, aber die Affen… ihr wisst schon…„Irgendwas ist immer“. Überall. Und unter jedem Dach wohnt ein Ach. Wirklich.Und während wir uns Sorgen wegen dem Job machen, der Kinder oder der Kredite, rühren wir Waffelteig zusammen oder bauen ein Trampolin auf. Während wir Liebeskummer haben oder uns um ein krankes Familienmitglied sorgen, kochen wir Marmelade oder fegen Laub.
Oder wir versuchen, die Schönheit, die in jedem Augenblick wohnt, festzuhalten. In Fotos oder Worten. Trotz allem, trotz dem ganzen Mist, der außerdem noch da ist und den wir der Umwelt nicht zumuten wollen. Oder nicht können.Guck doch mal, dieses Licht! Ist das nicht wundervoll? Wie eine zärtliche Umarmung. Diese Farben, so viel Schönheit überall…

Und dann.Geschenke, wo man sie nicht vermutet.

Und wo ist jetzt die Moral von der Geschicht´? Ganz einfach: Ein Foto ist nur ein Foto und wenn du irgendwo auf einer Parkbank jemanden mit hängendem Kopf findest, geh nicht vorbei!

 

42 Kommentare zu “Irgendwas ist immer

  1. Weißt Du Rike, Du hast zu mir gesagt, Dein Ton wäre weg in deinen Geschichten.
    Ich habe ihn wieder gehört. Schon die letzten Male. Und er wird immer lauter und deshalb glaube ich ganz fest, dass es auch wieder so hell wird, dass Du Dir gar nicht mehr vorstellen kannst, dass es mal wieder dunkel werden könnte. So wie dieser Sommer nie wieder aufzuhören scheint.
    Du bist so ein wertvoller Mensch, ich wünschte, Du wärst weniger kritisch mit Dir selbst. Für jeden hast Du ein aufbauendes und ehrlich wertschätzendes Wort. Nach all dem Blödsinn, den Du schon hinter Dir gelassen hast (Ja, ganz bestimmt!) wird niemand daran Anstoß nehmen, wenn Du jetzt auch noch anfängst mit Dir selbst zu reden. Aber nur nett.
    Es merkt sich eh niemand etwas über jemand anderen, weil alle zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind.
    Schau zurück auf das, was Du schon geschafft hast und klopf Dir auf die Schulter. So lange mache ich das schon mal virtuell.
    Ich hoffe, das war nicht zu verschwurbelt, wenn doch, bin ich nicht böse, wenn dieser Kommentar einfach irgendwo verschwindet, als hätte ihm jemand Betonschuhe angezogen und versenkt.
    Und was willst Du nur mit so viel Quittengelee?

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  2. Dieses Ach kenne ich auch. Und auch wenn es nicht so scheint, gibt genau dieses Ach vielleicht manchmal dem Leben die richtige Würze? Immer nur Sonnenschein wäre ja auch blöd, dann wüsste man dieses zauberhafte Licht durch das Blätterdach ja gar nicht richtig zu schätzen. Aber schön wäre, wenn dieses Ach nicht immer so riesig groß werden würde. Dir wünsche ich von Herzen ein nur ganz kleines Ach, und viel mehr sonne. Aber die hast du ja schon, in deinem Herzen, in deinen Zeilen, das sieht man doch gleich! Fühl dich umarmt!

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  3. Du hast mich im tiefsten inneren berührt!
    Mich, die so sachlich ist und kein innehalten kenn, zum Nachdenken gebracht.
    Du bist ein wunderbarer Mensch, auf eine besondere und unperfekte Art und Weise.
    So Wertvoll für dich, deine Familie und durch diesen Blog auch für unvorstellbar viele Menschen und mich. Danke.

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  4. Es ist unsagbar schwierig, was du durchmachst. Ich habe nur diesen einen Text von dir gelesen, aber dieses Gefühl… die Blicke, die Ängste, die Suche nach dem Sinn…
    Ich habe zwei Jahre Therapie gemacht, zwei Jahre nicht arbeiten können und dann kam alles ganz langsam.
    Manchmal kommt das Gefühl noch, diese Unsicherheit, dieses sich wie ein Hochstapler fühlen, dieses ich habe alles verlernt.
    Habe Mut. Tu was dir guttut. Sei gnädig mit dir.
    Mir hat es geholfen, die Trauer anzunehmen, zu beweinen, was verpasst ist, zu fürchten und sich falsch zu fühlen. Und mir meine Fehler zu vergeben, so schwer sie auch waren.

    Aber das Licht kommt und wenn es da ist, glaube mir, ist es so wunderschön und so warm und es kommt aus dir.
    Es geht bestimmt auch wieder weg und dann kommt es zurück. Jedes mal ein bisschen länger da, ein bisschen kürzer weg.

    Tu dir Gutes. Du hast es verdient.

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  5. Alle Fenster wirken warm, wenn man draußen steht. 😥
    *Zitat einer Band namens Duesenjaeger. Uh, tut DAS manchmal weh.
    Das draußen sein und reingucken. Zaungastyouth.

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  6. Ich höre all die Seufzer zwischen den Zeilen und den Bildern.
    Sie sind da. Aber all das anderer ist auch da. Schatten und Licht… und bevor ich jetzt mit dem Esoquatsch anfange, soll mir jemand auf die Finger hauen…!
    In meiner Heimat sagt man: Es chunnt wie’s mues u so wi’s chunnt isch es guet.
    Es kommt, wie es muss. Und so wie es kommt, wird es richtig sein.
    Und nicht anders rum!
    Hab dich lieb!

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  7. Du weißt ja. Du weißt.

    „Wird es wieder gut“ ist die eine große Frage, die uns in all dem Irrsinn vor sich hertreibt. Ich will da seit Wochen was dazu schreiben. Werde ich auch bald. Also – nein, ich glaube, es wird nicht gut in dem Sinn, dass wir vom Abgrund ins Landesinnere ziehen und dann ist alles für immer fein. Aus meiner heutigen Perspektive sind die Krankheitsetappen* große Wellenbewegungen, wir sind Schiffchen auf dem weiten Ozean. Mal geraten wir in einen Sturm, und dann schippern wir friedlich durch die Karibik, und manchmal beides an einem Tag. Wir sind Multiversen.

    Dass andere die Reste unseres Leids sehen, das passiert. Es ist okay. Andere sehen ja auch das Funkeln in unseren Augenwinkeln an einem guten Tag, hören den Übermut in unserer Stimme, spüren unsere Wärme. All das gehört zusammen. Wir sind ja keine Abziehbilder.

    Klinge ich wirr? Sei’s drum.

    * Eigentlich will ich es nicht Krankheit nennen. Ich möchte mich darüber nicht definieren.

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  8. Liebe Rike,
    bisher habe ich nur still mitgelesen, aber dieser dein Text berührt mich so arg, dass ich einen Gruß dalassen möchte.
    Im dunklen Schlafzimmer habe ich ihn gelesen, während ich meinen Baby in den Schlaf stillte. Vor zweieinhalb Jahren habe ich nach vielen Jahren der Depression meinen Vater durch Suizid verloren – mein ganz persönliches „Ach“, wo doch viele nur die glückliche Mutter zweier Töchter in mir sehen. Viele deiner Worte lassen mich ihm nah sein. Danke, dass du so offen mit den Dingen umgehst – unsere Gesellschaft braucht genau das!
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen beste Genesung! Das Leben ist schön – von einfach hat keiner was gesagt. 😉

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  9. Liebe Rike,
    Danke, dass du über die Schatten schreibst. Ich wünsche dir und glaube fest daran, dass das Licht zurück kehrt und bei dir bleiben wird.
    In unserer Familie ist jemand, der das Licht nicht mehr sieht.

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  10. Hallo Rike,
    als stille Leserin Ihres Bloges möchte ich heute einen lieben Gruß hierlassen. Da der Inhalt Ihres Postes mich zutiefst berührt hat, weil er so wahr ist, … denn irgendwas ist immer.
    Schaut man hinter all die „Glänzenden Fassaden“ so bröķelt auch da der Putz ab!
    Eines muß ich noch loswerden, Ihre Texte und deren Inhalt sind unvergleichlich, herrlich normal, einfach nur toll!! DANKE dafür.
    Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, alles Gute.
    Herzliche Grüße von Grit.

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  11. Pingback: Bilder und Worte | Annas Miniaturen

  12. Was für ein Kunstwerk, liebe Rike! Text und Bild so aufeinanderprallen zu lassen, dass sie eben genau so die Realität widerspiegeln. Du bist der Banksy unter den Bloggern. Du selbst bis das Kunstwerk! Davon abgesehen knuffe ich Dich ganz lieb, auf dass die Affen wegfliegen. Alles wird gut. Schliesslich bist Du auch schon seit einem Jahr Nichtraucherin! Hab Dich lieb ❤

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  13. Was für ein Thema. Was für ein Text. Was für eine mutige Frau dahinter.
    Zutiefst berührt als sonst stille Leserin möchte ich dich einfach nur in die Arme nehmen.
    Aus eigenem Erleben weiß ich um die Ängste Hoffnungen Helfenwollen Ohnmachten der gesamten Familie und des Freundeskreises. Die Kinder, die ihre Antennen ausfahren, und sofort spüren, hier ist was ganz und gar nicht so, wie es sein sollte.
    Ich wünsche dir aufmerksame wohlwollende Menschen um dich herum. Entlastung und Getragensein. Und die Lust und Freude, alle schöne Zeit mit ganzer Seele zu nutzen.
    Dir und deiner Familie alles Gute.
    Romy

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  14. Sehr schön, gerade die Kombi aus den Bildern und den Worten. Ich lese und höre sehr oft Leute über Instagram schimpfen, vor allem von solchen, die es nicht verstanden haben. Gerade die kleinen, schönen Augenblicke zwischen all den täglichen Sorgen und Pflichten sind es, die man gerne festhält und teilt. Weil es auch einem selber gut tut, sich auf die schönen Momente zu konzentrieren (Achtsamkeit, wenn man das Wort verwenden möchte) und diese im eigenen Feed zu bewahren, damit man sie nicht vergisst, wenn der ganze andere Wust so groß scheint.

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  15. Huch wie lange war ich nicht hier? Das Licht kommt in jedem Fall wieder! Nimm‘ es jetzt aus jedem dieser Bilder (das Blätterherz! haachz!). Ansonsten kann ich mich den Worten von Romy und den anderen Vorrednerinnen nur anschließen.

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