Etappensieg

Er hat es geschafft! Das besondere Kind hat den Endgegner Schule bezwungen!

Zwei Komma Null und die Zusage für einen Platz auf dem Beruflichen Gymnasium seiner Wahl. Ihr ahnt nicht, was mir das bedeutet. Was das für unsere ganze Familie bedeutet.

Grundschule und Mittelschule, zumindest die ersten Jahre, sind die schlimmste Zeit für jemanden, der anders ist als alle anderen Kinder. Keiner hätte auf ihn gewettet, außer uns. Und selbst wir hatten düstere Zeiten, an denen wir die Zukunft unseres Kindes eher skeptisch sahen und an manchen ganz besonders dunklen Tagen wussten noch nicht mal wir weiter, und manchmal noch nicht einmal, ob er überhaupt noch länger mit uns zusammen leben kann. Wochen, an denen der Familienalltag derart Kopf stand und ein „normales“ Leben kaum möglich war, weil sich alles, alles um den Jungen drehte, drehen musste, forderten uns heraus und nahezu alle unsere Kraftreserven.

Viele Leute, die ich kenne, lachen über Sheldon Cooper, aber kaum einer hat auch nur den Hauch einer Ahnung, wie es ist, mit einem Shellie zu zusammenzuleben.

„Wenn ich groß bin, studiere ich und werde Wissenschaftler!“, da war sich das Kind schon als ganz kleines sicher. Schulisch trotz nachgewiesener Hochbegabung zwischen Drei und Vier, in manchen Fächern versetzungsgefährdet. Niemand mochte auf diesen Jungen wetten.

Ich denke immer wieder an die diagnostizierende Ärztin, die mir vor sechs Jahren eindringlich sagte: „Halten sie durch! Wenn sie den Jungen durch die Pubertät gebracht haben, wird es besser. Bei fast allen Patienten ist das so.“. Ich wünschte damals so inständig, sie möge Recht haben und fürchtete mich so abgrundtief vor den Jahren, die noch kämen, bis denn „alles besser“ würde.

Und es wurde besser, sukzessive sogar und schneller, als ich dachte. Zwei Menschen, die in das Leben des Kindes traten, hatten an der positiven Entwicklung einen maßgeblichen Anteil: Der Blondino, der uns geschenkt wurde, und Paul.

Paul, der Integrationshelfer mit den unkonventionellen Ideen. Paul, der Beachvolleyballer. Paul, der tätowierte Hüne mit den neugierigen Augen eines Kindes.

Jetzt ist der Tag gekommen, sich von Paul zu verabschieden. Nach vier Jahren bei uns muss er auch mal etwas anderes machen dürfen. Etwas anderes als Schule. Rafting-Guide in Österreich könne er sich vorstellen, erzählt er mir. Oder Kinderbetreuer auf einem Kreuzfahrtschiff!

Der Junge sagt: „Nein! Kein anderer Betreuer!“, und fährt komplett fest. Dann, ein paar Tage und Gespräche später, mit uns und auch mit Paul, willigt er ein, es zu versuchen. Ja, ein anderer dürfte kommen.

Andere Schule, anderer Betreuer, wir wissen, das sind eine Menge Veränderungen auf einmal. Auch dem Jugendamt als Träger der Schulintegrationshilfe ist das Ausmaß der Herausforderung bewusst. Wir erbitten uns, dass Paul die letzten Wochen parallel mit dem „Neuen“ arbeiten kann und ihn briefen. Und natürlich als Backup für unseren Jungen da sein. Sie willigen ein. Die Suche nach einem Nachfolger zieht sich hin…

Dann der letzte Tag. Wir sitzen zur Feierstunde anlässlich der Zeugnisausgabe in einem Restaurant. Die Direktorin spricht, die Lehrer sprechen. Pauls Name fällt, … Danke dem lieben Paul, ohne den wäre vieles in den letzten Jahren deutlich schwieriger gewesen… Der liebe Paul windet sich. Alle klatschen, ich pfeife sogar. Er sitzt mir gegenüber, errötend und peinlich berührt.

Heute erst sind sie von der Klassenfahrt aus Italien zurückgekommen, übermüdet noch. Er hatte sich bereit erklärt mitzufahren, damit unser Junge auch dabei sein kann. In diese Zeit fiel sein einunddreißigster Geburtstag, sie haben ihm ein Ständchen gesungen, „seine“ Kinder. Nun klatschen sie. Alle. Er war viel mehr als nur der Integrationshelfer unseres Kindes. Er war Integrationshelfer für alle Kinder dieser Klasse. Er war Integrationshelfer für die Lehrer, die oft zum ersten Mal Kontakt hatten mit einem Kind mit Autismusspektrumstörung. Wir hatten großes Glück mit dieser Schule und diesen Lehrern. Und unserem Paul!

Unser Paul. Ich denke, es fällt auch ihm schwer, dieser letzte Tag und dieses „Tschüss, mach´s gut!“, in die Runde.

Wir gehen Essen im Anschluss, das ist verabredet. Ich rede zu viel, bin aufgeregt, wenigstens habe ich nicht geflennt bis jetzt! Während wir auf das Essen warten, hole ich zwei Glückwunschkarten aus meiner Tasche.

Zum erfolgreichen (ich kann es immer noch nicht fassen) Abschluss dieser Etappe bekommen beide, der Junge und Paul, einen Fallschirmsprung geschenkt von uns. In Pauls Karte habe ich geschrieben: „Ganz egal, wohin Deine Reise Dich auch führen mag, unsere Familie bleibt für immer ein Teil Deiner Lebensgeschichte und Du für uns immer ein Teil unserer Familiengeschichte.“…

Er freut sich. Also so, wie sich jemand freut, der Höhenangst hat. Ich sage ihm, dass ich ihm mein Kind anvertraue für diesen Flug, genauso wie ich ihm den Sohn in den letzten Jahren anvertraut habe. Und dass ich denke, dass das großartig wird für beide.

Paul sitzt mir gegenüber und nun kann ich nicht mehr länger warten. „Na,“ sage ich, „Wann gehts denn auf´s Kreuzfahrtschiff?“. Er schüttelt den Kopf. „Kein Kreuzfahrtschiff! Ich weiß noch nicht, was ich mache. Ich muss dann dem Bubi mal eine Frage stellen, davon hängt das ab.“. „Was für eine Frage?“, will ich wissen. Er schüttelt wieder den Kopf, er will es mir offensichtlich nicht sagen.

Ich bin irritiert…

… der Bubi seziert derweil seelenruhig seinen Goldbroiler…

Später, der Hosenscheißer tut das, was sein Name sagt und ich bin im Waschraum zugange und der Beste vertritt sich derweil die Füße, führen die beiden ein Gespräch. Nichts davon werden wir je erfahren. Aber als wir zurückkommen, sagt Paul zu uns:

„Ich möchte gern bleiben! Noch ein Jahr vorerst.“.

Ich fange an zu plappern, dass ich nun als nächstes einen Weltraumsprung organisieren werde zur Abifeier und dass wir uns freuen würden und lauter plapperiges Zeug, hektisch, mit flatternden Armen.

Er bleibt! Paul wird den Bubi auch auf dem Gymnasium begleiten, zumindest das nächste Jahr!

Heute Morgen dann sitze ich im Auto und auf einmal kommen die Tränen. Ich hätte nicht gewusst, wie ich mich hätte verabschieden sollen. Ich kann gar nicht sagen, wie nah mir dieser junge Mann geht, trotz aller Professionalität, die ja unsere Zusammenarbeit ausmacht. Ich sehe, was er für meinen Jungen war in den vergangenen Jahren und wie groß und positiv sein Einfluss. Ich bin so unendlich dankbar. Die Tränen rinnen, die Ampel wird nicht grün. Macht nichts. Dann sitze ich hier und heule an der Albertbrücke morgens halb neun. Vor Stolz. Der Bubi hat´s geschafft! Mein Kind hat es geschafft! Er wird auf die Penne gehen ab August!

Und Paul bleibt bei uns… ich heule immer noch, vor  Rührung und Erleichterung und auch, weil mir jetzt klar wird, wie sehr er mittlerweile zu uns gehört. Er bleibt!

Und wir werden sehen, wie weit die Reise noch geht für dieses Kind, auf das noch vor ein paar Jahren keiner wetten wollte. Und ab wann er seine Schritte alleine wird gehen können und wohin sie ihn führen. Ich nehme Wetten entgegen!

 

 

 

 

60 Kommentare zu “Etappensieg

  1. Ohmann, ich heule mit Dir! Ich weiß, wie doof es ist, etwas Gutes loslassen zu müssen und wie es ist, Kinder zu haben, die mit Neuem nix anfangen wollen….alles Gute für das kommende Jahr für Euch alle!

    …und hey….gut,dass der Sprung nicht für mich ist, auch wenn es mein GeburtsTAG ist😉😉

    LG Ivi

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  2. Na, super. Jetzt heule ich auch. Und muss an den Tag denken, an dem mein erster, damals dreijähriger Sohn den letzten Tag bei seiner Tagesmutter hatte. Sie hatte begonnen, ihn zu betreuen, da war er noch kein halbes Jahr alt. Er gehörte dort fast mit zur Familie, ich habe ihr vollkommen vertraut (mein Baby anvertraut!) und trotzdem dachte ich, ich könnte mich ganz nett und sachlich verabschieden. Wir sind 500 km weit weg gezogen, es war klar, dass wir uns lange nicht mehr, vielleicht nie mehr wiedersehen würden. Da stand ich mit meiner Karte für sie, ganz cool. Ich bin genau bis „Ich wollte Dir danken für…“ gekommen. Dann habe ich (haben wir beide) so geflennt, als gäbe es kein morgen. Bei Euch ist es noch eine Steigerung! Mein Gott! Was Ihr geschafft habt! Glückwunsch an Alle!

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  3. Ich freue mich sehr für euch und ich fühle mit!ich hatte gestern meinen letzten Tag als schulintegrationshilfe bei „meinem“ Schüler.nach den Ferien geht er zur Berufsschule,da ist mein Weg zuende.ich freue mich sehr für ihn,bin aber auch etwas traurig.
    Vor zwei Jahren habe ich dir eine E-Mail geschrieben und erzählt das ich eine neue Stelle beginne und das ich hoffe ein kleines bisschen Paul für die Familie werde…

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  4. Ich hänge mich an die Heulsusen und muss auch ein paar Tränchen lassen. Das ist so schön. Ihr könnt alle so stolz auf euch sein! Was ihr geschafft habt. Ihr habt ein dickes, fettes Fundament für den Sohnemann gebaut, das wird ihn lange, lange tragen.
    Und den Paul müsst ihr adoptieren.

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  5. Na danke, 6:12 in der Früh und mir kommen die Tränen. Scherz beiseite, ich wünsche euch alles erdenklich Gute für die Zukunft.

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  6. Und jetzt heule ich.
    Und freue mich mit Euch!
    Und drück die Daumen!

    Ganz viele Glückwünsche von mir an Deinen Ältesten!

    Und ja, es wird besser, jeden Tag 🙂 ❤

    Autismus ist kein Weltuntergang. Wenn das doch nur mehr Integrationshilfen begreifen würden.

    Und von mir an Paul ein riesen Danke.

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  7. Mein liebe Rike, ich weigere mich zuzugeben, dass ich gestern 23 Uhr im Auto saß, der Dipl.-Ing. über die nächtlich leere Autobahn brauste und ich mit den letzten 5 Prozent Akkuleistung diesen Deinen Text gelesen hab – und mir ganz viele Rührungstränchen verdrücken musste. Bloß gut, es war dunkel! Ich freu mich für Euch und hoffe, dass der ein oder andere behördliche Entscheidungsträger diese Zeilen liest und verinnerlicht, wie wichtig menschliche Begleitung für besondere Kinder ist, damit sie ihren Weg finden. Es wird erschreckend viel Steuergeld für Blödsinn ausgegeben (siehe auch Reisekosten der Weltgesundheitsbehörde!). So einen Mentor, großen Bruder, Coach, wie auch immer man das nennen will, brauchen eigentlich alle Kinder. Naja, man wird ja wohl noch träumen dürfen. ich hoffe, wir sehen uns nächste Woche, bevor ich 3 Wochen weg bin. Dein Geschenk wartet. Und nach diesem Text hast Du es Dir sowas von verdient.

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      • Du weißt ja, wie das mit uns schüchernen Mädels ist. Von wegen Kreativität auf Abruf und Angst vor dem ersten Wort und so. Aber nach 3 Tagen Urlaub mit dem Mitbewohner hab ich schon wieder so viele beziehungsprägende Situationen erlebt. Das könnte blogverdächtig sein. Das Scheibchen schlug einen Livestream vor. Na klar doch … Schönene Tag Dir! Manu

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  8. Oh wow…obwohl ich euch ausschließlich hier vom Blog kenne, bin ich absolut hin und weg von soooo viel Gefühl! Tränchenalarm…
    Alles erdenklich Gute für euch!!! Ich wette auf deinen Großen;-)

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  9. ……ich freue mich von ganzem Herzen für Euch über diesen Erfolg meine liebe Henny!!! Das habt ihr alle sauguad gmacht!!! Ich habe einen Arbeitskollegen der auch ein Asperger Autist ist, es ist nich timmer leicht…..
    Liebe Grüße und ich hoffe noch auf meine mail mit Klassenfotos, wennst von Deinem Freudensprung wieder gelandet bist!!
    Ich drück Dich, Deine Doritt

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  10. Freude und Rührung und Erleichterung
    All sowas kann das Netz. Ich schrieb dir von und über Paul per @
    Ich finds so schön und ärger mich doch sosehr, dass solche Glücksgeschichten Ausnahmen bleiben, wo sie doch ALltag sein sollten.

    Und ganz besondrs freu ich mich für deinen Großen dass er getragen wird bei dem nächsten großen Schritt

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  11. WER SCHNEIDET HIER ZWIEBELN?!?!?

    Aller herzlichste Glückwünsche an euch. Zum Abschluss, zum erfolgreichen überleben der Eltern und zu mehr Paul!

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  12. Oh, wie wunderbar für euch! Dann wünsche ich allen Beteiligten einen supererfolgreichen weiteren Lebensweg und bin jetzt mit gespannt, wohin das alles führt. Wissenschaftler, warum nicht?!
    Ich kann die Tränen nachvollziehen. Wir sind gerade dabei, uns mit Kind Nr 3 endgültig von der besten aller Erzieherinnen zu verabschieden, und es gibt definitiv keine Gnadenfrist, die Schule kommt …

    LG Doro

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  13. Und auch ich heule mit. Wie sehr kann ich mitfühlen. Wie sehr bin ich selbst betroffen.
    Deine Zeilen sind meine Worte:
    („Halten sie durch! Wenn sie den Jungen durch die Pubertät gebracht haben, wird es besser. Bei fast allen Patienten ist das so.“. Ich wünschte damals so inständig, sie möge Recht haben und fürchtete mich so abgrundtief vor den Jahren, die noch kämen, bis denn „alles besser“ würde.)

    Ich bringe unser besonderes Mädchen gerade durch die Pubertät. Bisher noch ohne Diagnose, aber mit Psychotherapie. So viel Verletzung hat sie erfahren und in Selbstverletzung umgewandelt. So viel Angst vor der Schule und den Mitschülern.

    Ich fürchte mich abgrundtief vor den Jahren, die noch kommen. Im besten Fall sind es noch vier.
    Und auch ich werde feiern – so wie du – wenn sie es schafft.

    Ach hätten wir doch eine Pauline, die ihr beibringt, dass es schön ist eine Frau zu werden.

    Ganz liebe Grüße

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  14. Sitze mitten auf dem Wochenmarkt, sonnenbestrahlt, vor mir ein Latte, in der Hand ne Kippe, und wische mir die Tränen von den Wangen. Heule vor Freude, weil ich mich so für euch, euren Jungen, eure Familie, dich, von der ich seit Jahren lese, freue. Heule als Mama, weil ich mir wünsche, dass mein Sohn ebenso vermeintliche Grenzen überwinden wird. Und dass ich ihm wie du (Vorbild!) eine Unterstützung sein kann. Heule als Schwester einer schwerbehinderten Dreijährigen, weil das alles kacke ist, aber ich mir so sehr Selbstbestimmung für sie wünsche. Du gibst mir Mut! Heule als Lehrerin in RLP an einer Schule, bei der Inklusion im Konzept steht, aber System und Menschen komplett überfordert sind. Für mehr liebe Pauls für alle Kinder! Ich danke dir. Und beglückwünsche euch, von Herzen. Rieke, du bist ein Mutmacher und ein Vorbild (trotz und gerade weil nicht alles wie Zuckerwatte schmeckt). Alles Liebe ❤

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  15. Und schon wieder laufen hier die Tränen! Ich bin so berührt von dem Text, von dieser Beziehung, davon, dass ein Mensch euer Leben so unglaublich bereichert. Und ich freue mich mit euch mit, dass es weitergeht mit Paul und es ist so stark wie ihr hinter Eurem Kind steht und was ihr schon für Täler durchschritten habt.

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  16. Ganz herzliche Glückwünsche dem Großen und euch zu diesem Etappensieg. Ich kann Euren Stolz so gut verstehen. Auch unser Langer hat in diesem Jahr ein Etappenziel erreicht. Er hat sein Abi in der Tasche. Er ist jetzt auf der Suche nach einem Studienplatz. Die erste Zusage kam schon. Vielleicht gibt es noch andere Zusagen. Da muss er sich dann entscheiden. Auch das ist wieder eine Herausforderung. Der jetzt zugesagte Platz ist in einer Stadt, die knapp zwei Autostunden entfernt ist. Das würde Auszug bedeuten. Mal sehen, ob das schon geht

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  17. Ich lese hier schon so lange…ich kommentiere nie, damit hab ich es nicht so. Aber eben hab ich geweint, echt jetzt. Vor Rührung, vor ( stellvertretendem) Stolz auf Eure Familie, die auch diese Etappe gewuppt hat und weil Paul offensichtlich einer der Guten ist! Liebe Grüße und Glückwünsche an Deinen Sohn! Mel

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