Mutterherzgeschwurbel

Gestern wurden dem Burschi die vier Weißheitszähne entfernt. Das war nötig, weil die ihm später große Probleme bereitet hätten. Es sind noch kleine Kugeln, haben sie mir gesagt. Das ist nicht weiter schlimm, sagten sie. Wir schneiden das Zahnfleisch auf und holen die kleinen Kügelchen raus, bevor sie große Beißerchen sind und ihrem Jungen Probleme machen, haben sie gesagt.

Anderthalb Stunden wurde an meinem Schlaks herumgeschnitten und gehobelt. Anderthalb Stunden, in denen ich flatternd im Wartezimmer saß, zum Aushalten verdonnert.

Dann kam eine Schwester im OP-Kittel und holte mich. Das Kind saß mit roten Augen und fetten Backen auf dem Zahnarztstuhl und mich überkam eine Welle an Gefühlen. Ich grabschte nach der Kinderhand und quetschte sie, während die Ärztin mir erzählte, was sie gemacht hätte und wie tapfer der Junge gewesen sei. Ich war überhaupt nicht tapfer und kaute und schluckte allenfalls tapfer an meinen Tränen.

Tapfer war er auch seitdem. Er litt leise, schaute mich waidwund an aus seinen Rehaugen und lag einfach nur.

Ich wuselte wie eine Bekloppte in der Wohnung hin und her, suchte Zeug, schleppte es von A nach B, kochte sinnloserweise Sachen vor, pürierte diese, googelte Pflegehinweise nach Zahn-OPs, bettelte die Nachbarin, Arnikaglobuli aus der Apotheke zu holen, weil ich den Jungen nicht alleine lassen wollte, reichte feuchte Waschlappen, trockene Waschlappen, Kamillentee auf dem Löffel, aufgelöste Schmerztabletten auf dem Löffel und nachts ließ ich alle Türen offen, das Licht an und horchte in die Dunkelheit.

Schlich auf Socken zum Kinderzimmer und besah mir das im Sitzen schlafende Kind, mit Backen dick wie Sandy, das Eichhörnchen. Mein Junges! Angeditscht und beschädigt.

Dann lag ich in meinem Bett, starrte an die Decke und heiße Tränen liefen mir in die Ohren. In diesem Moment dachte ich an all die Situationen, in denen ich Angst und Sorge um dieses Kind haben musste. All die sorgenvollen Momente aus sechzehneinhalb Jahren, komprimiert in einem Klumpen, der mein Herz verstopfte und krampfen ließ.

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vor sechzehn Jahren

Er war nicht mal ein Jahr. Ich sehe ihn ohnmächtig werden und erbrechen auf der Schulter des Bärtigen, mitten in der Kinderarztpraxis, nach fünf Tagen Fieber ohne Besserung. Rauf, runter, rauf, runter. Ohnmacht. Höre den Kinderarzt: „Es gibt leider eine Form der Leukämie, die sich in solchen Fieberverläufen manifestiert. Ich entnehme dem Kind jetzt Blut aus dem Kopf, wir wickeln ihn in eine Decke, damit er nicht strampelt… geht leider nicht anders… noch zu klein…“. Das entsetzliche Gellen meines Kindes fährt mir durch Mark und Bein. Zwei Tage ohne Schlaf und mit entsetzlicher Angst später Entwarnung. Zum Glück.

Ein paar Jahre später. Ich sehe ihn auf einer OP-Liege wegfahren, „Tschüss Mami!“, flüsternd, kaum sechs Jahre alt. Höre den Oberarzt erzählen, Blinddarmdurchbruch, Sepsis, Glück gehabt. Warum? Warum? Wir waren doch schon im Krankenhaus! Ich sehe mich toben, sie hätten ihn fast verloren! Mein Baby! Wieso habt ihr das nicht gesehen?! Er hat noch mal Glück gehabt, ein Vorschulkind mit Bauchschmerzen ist der Albtraum eines jeden Chirurgen, höre ich den Arzt sagen…

Später. Der völlig aufgelöster Vater eines Schulkameraden am Telefon, sie müssen kommen, etwas Schreckliches ist passiert! Ihr Junge ist verunglückt, schwere Stahlplatte, Kopf, Keller, ich weiß nicht, wie das passieren konnte! Ich sehe den Dreikäsehoch mit einem blutdurchtränkten Handtuch um den Kopf. „Tut gar nicht weh, Mami!“. Er hat einen Schutzengel, sagt die Chirurgin beim Nähen. Die fette Narbe blitzt noch heute nach jedem Friseurbesuch auf seinem hübschen Kopf. Ich will sie noch immer streicheln und küssen…

Ich sehe mich in einem großen Krankenhaus zur Besuchszeit. Das Kind winkt am Fenster, für Monate getrennt. Höre alles, was die Ärztin mir zu sagen hat und verstehe gar nichts. Autismusspektrumstörung, Asperger Syndrom. Ich lerne mein Kind kennen, endlich. Nach so vielen Jahren. Und heuleheuleheule.

Ungezählte Anrufe wegen Quälereien aufgrund seiner Andersartigkeit. Geschlagen, Nase blutig, Sachen weg, Kind weg, Schulangst…

All meine Gefühle, im Zeitraffer der Erinnerung, überwältigen mich und ich denke mir, dass es nichts, wirklich rein gar nichts gibt, was annähernd dem Gefühl gleicht, das eine Mutter befällt, die Angst um ihr Junges hat. Kein Gefühl für Hunger, Durst noch Müdigkeit. All ihr Sein ausgerichtet auf das Fortpflänzchen. Den Rest der Welt ausgeblendet, Tunnelblick.

Ich sehe eine andere Mutter vor mir, deren Kleinstes schon nierentransplantiert werden musste vor seinem dritten Geburtstag. Ein goldiger, fröhlicher Junge, der eines jeden Herz gewinnt, der ihm begegnet. Wie stark muss diese Mutter sein? Eine andere Mutter, die ich kenne, hat ihre beiden Kinder nacheinander an die Leukämie verloren. Mit Anfang zwanzig. Sie überlebt sie schon seit zwanzig Jahren. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie das gehen kann.

Was wird noch kommen? Niemand weiß es. Da ist nur Hoffen und Wünschen, keine Spur von Wissen. Und das ist auch gut so.

Ich denke, nichts in meinem ganzen Leben habe ich so mit Wünschen und Hoffnungen bedacht wie meine Kinder. Vermutlich geht das allen Müttern so. Ich habe sie als Babies bestaunt, ihre ersten Schritte mit Herzeleid bewundert und sehe sie wachsen. Und frage mich bei alledem, was wohl aus ihnen wird. Wie sie aussehen werden, wenn sie groß sind. Wohin ihre Reise sie tragen wird. Ob sie Freundschaften schließen werden, Familien gründen. Wünsche ihnen, dass die Liebe sie findet und wenig Schmerz dabeihat im Gepäck.

Und ich denke mir dabei, dass es gut ist, dass da nur Hoffen und Wünschen ist und kein Wissen. Dass niemand von uns weiß, welche Prüfungen das Leben unseren Kindern und uns vorbehält. Dass wir das Hier und Jetzt genießen können, uns aufreiben, ärgern, lieben. Aber stets im Bewusstsein, egal, was passiert, wir werden in jeder noch so unvorstellbaren Situation das Beste für unsere Kinder sein. Von der deren erster bis zu unserer letzten Minute. ❤

 

So, mein triefendes Mutterherz und ich gehen jetzt Waschlappen wechseln. Küsst eure Kinder und wenn gerade alles gut ist, geniesst es. Und falls nicht, ihr schafft das!

Mütterherzenspower, dagegen kackt selbst Chuck Norris ab. Chakka, Baby!

 

 

 

39 Kommentare zu “Mutterherzgeschwurbel

  1. Die gewaltigsten Gefühlsachterbahnen fährt man doch immer unserer heiß geliebten Kinder wegen. Vom Gruselkabinett bis hin zum Panoramarad ist alles dabei, und oftmals geht eins direkt ins andere über. Ich finde ja, dass wir Mütter gerade in den Momenten extrem stark werden, in denen man es nie für möglich gehalten hätte. Mit unserem Großen haben wir auch schon die eine oder andere Odyssee durch und ich kann Dir nachempfinden. Und ab und an schaue ich zu Familien hinüber, die richtig schwere Schicksale zu bewältigen haben und denke mir: „Dem Himmel sei dank ist es bei uns nichts wirklich Schlimmes!“ Danke für diesen Beitrag- und natürlich schnelle Heilung für Deinen Patienten!! Viele Grüße! Claudia

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  2. So schöne Worte. Danke.

    Mir bricht schon das Herz bei jeder Impfspritze, ich kann mir nicht im Geringsten ausmalen, wie mein Herz die von Dir geschilderten Situationen überleben würde.

    Man vergisst im Alltag so schnell wie kostbar die Zeiten sind, in denen die größte Sorge das empörte, müde Schimpfen des Babys ist.

    Gute Besserung an den Großen und eine hoffentlich ruhigere nächste Nacht für Euch beide. Ach ja, Eis hilft in dieser Situation bestimmt auch. Euch beiden. 😀 Und Rewe liefert in DD auch an. Dann brauchst Du das Nest nicht verlassen.

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  3. Wow, obwohl ich erst seit 2,5 Jahren und zusätzlich 3 Monaten das Mutterglück fühlen darf, kann ich dich genau verstehen. Jemand geliebten leiden zu sehen ist ganz grausam (drum verstehe ich grundsätzlich auch Männer, die nicht bei der Geburt dabei sein wollen). Und es hat mir die Gänsehaut aufgezogen beim Lesen. So wahr, so wahr, soschön geschrieben! ❤
    Auch wir hatten bisher viel Glück und Gesundheit (abgesehen von zwei Hydrozelen-OPs, die uns einige Ambulanz-Besuche und viel Dankbarkeit beschert haben angesichts anderer Schicksale…) Nicht zu vergessen die andere Seite, wenn man als (großes) Kind Mamas Ängste und Sorgen und Gefühlsausbrüche einfach nur lästig und peinlich und vor allem unbegründet findet… 😉

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  4. Da hätt ich beinahe hochmütig über ein paar Weißheitszähnchemitleidstränen gelächelt, aber ich nehme alles zurück! Sie wissen, wovon sie schreiben! Und wenn grad nichts schlimmeres als Magen-Darm-Mädchen und übermüdeteter ,frühschichtender Mittlerer da sind, leidet mein Mutterherz für diese armen Zwerge (mehr als die Hälfte davon nun über 20).
    Es gibt da noch die schlimmeren, bis beinahe unerträglichen Momente (ertragen werden müssen sie alle), da halte ich mich immer noch ans Müttermantra: alles wird gut. Ich werde dereinst zurückschauen und es wissen: alles ist gut geworden. Bis jetzt hats noch immer geklappt. Danke für das Geschwurbel, mir gehen Herz und Augen über.

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  5. Oh Rike, welche Mama könnte dich nicht verstehen? Auch ich hoffe immer, dass die Wehwechen meiner Wänster von der harmlosen Sorte sind. Und kann seit ich selbst Kinder habe plötzlich die Besorgnis verstehen, über die ich früher bei meiner Mutter immer mit den Augen gerollt habe…
    Gute und schnelle Besserung für deinen Großen!
    LG, Simone

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  6. Dieser Text tut heute so unglaublich weh…

    Natürlich wünsche ich dem Fortpflanzerich trotzdem gute Besserung! Ich nahm damals 6 Kilo ab und aß nur Apfelmus. Der Mund ging einfach nicht weit genug auf.

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  7. Mit meinem fast 2-jährigen in der Manduca, der krank ist, sitze ich ganz bewegt vor dem Computer. So schön und berührend geschrieben. Danke! Und ich würde das Buch auch auf jeden Fall kaufen!

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  8. Wunderschön geschrieben und furchtbar.
    Es weckt in mir den Wunsch bei meinem Kleinen ins Kinderbett zu krabbeln und ihn nie wieder aus meinen Armen zu lassen.
    Und er ist erst zwei…

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  9. Nun ist es aber gut. Wollte nur schnell vorm Schlafen was Schönes lesen..drei deiner Beiträge und ein ganzes Päckchen Taschentücher ist alle. Mitten ins ❤..Danke

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