Gedanken um einen Gastbeitrag…

Séverine vom Blog Mama on the Rocks bat mich um eine Geschichte zum Thema „Die Schweiz und ich“. Und ich sagte gerne zu, dachte ich doch spontan daran, wie lustig das werden würde, wenn ich immer nur von der Sächsischen Schweiz schreiben würde! Da verbrachte ich gefühlt meine halbe Kindheit. Als Kind zweier Bergsteiger das natürliche Umfeld.

Die Abgabefrist rückte immer näher. Und ich fand keinen Anfang. Meine gewohnt spitzbübigen Gedanken wollten sich nicht einfangen lassen. Stattdessen verlor ich mich beim Betrachten der alten Fotos in ganz anderen Gefühlen.

Und da war sie auf einmal da. Sprang mich an und boxte mit gegen die Brust! Trauer. Die alte Bekannte. Die verhasste Megäre, die mir den Tag versauen würde! Uneingeladen steht sie in regelmäßigen Abständen vor der Tür. Mit unterschiedlichem Gewand bekleidet. Mal hüllt sie sich in Wut und Trotz, mal in verzweifeltes Unverständnis. Mal in einen Umhang aus Tränen. Auch noch nach so vielen Jahren.

„Das Leben geht weiter!“

Ja, wir Überlebenden leben noch. Ja, wir haben nach diesem Tag X Kindern in dieser Familie Leben geschenkt und die Alten begraben. Und dennoch ist dieses Leben keinen Tag so weitergegangen wie gedacht. Für niemanden von uns.

„Er wurde mitten aus dem Leben gerissen.“

So beschreibt man oft, wenn ein junger gesunder Mensch von einem auf den anderen Tag geht. Aber nicht nur er wurde aus dem Leben gerissen, sondern unsere gesamte Familie. Und das nicht nur für ein paar Trauerwochen. Da ist soviel Ohnmacht, soviel Nicht-begreifen, soviel Nicht-mehr-wollen. Und es hört auch nicht auf. Hört es irgendwann auf? „Das muss doch auch mal wieder aufhören!“, leicht gesagt.

Leben und Tod. Wir werden geboren und sehnsüchtig erwartet. Und wir sterben und werden betrauert und vermisst. In ganz furchtbaren Fällen sogar von denselben Personen. Ist es leichter, wenn man sich verabschieden kann, wie nach einer langen Krankheit? Ist es leichter, wenn man das Gefühl hat, einem Menschen Lebewohl zu sagen, der ein erfülltes Leben hatte und gehen möchte? Ist es leichter, die Hand eines alten Menschen loszulassen? Ich weiß es nicht.

Trauer hält sich an keine Karenz- oder Halbwertzeiten. Und jeder Mensch trauert anders. Ich habe viele Jahre gar nicht trauern können, dachte ich. Stand hilflos daneben, wenn ER von anderen beweint wurde. In mir war alles voller Wut. Ich fühlte mich so betrogen! Betrogen um die so ersehnten Erwachsenengespräche auf Augenhöhe, so betrogen um das Gefühl, seinen Arm um meiner Schulter zu spüren und Stolz in seinen Augen zu sehen, wenn er auf mich herabblickt. Wärest du jetzt stolz auf mich, könntest du sehen, was aus mir geworden ist? Betrogen um das Gefühl, meine Kinder auf seinem Schoß sitzen zu sehen. Trauer hat viele Gesichter.

Ich bin mittlerweile älter, als er werden durfte und dennoch befinde ich mich immer noch in der Rolle eines trauernden Kindes. Habe ich, wenn ich an ihn denke, die Gefühle des kleinen Mädchens, das ich einmal war.

Das Internet vergisst nicht. Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich diesen Beitrag für Mama on the rocks schreibe und ich sie fragte, was sie davon hält und wie sie zur Veröffentlichung von Fotos steht, hat sie sofort geantwortet, das sei eine wunderbare Idee! Und Bilder rausgekramt. Alle Bilder in dem Beitrag sind aus dem Album meiner Mutter.

Für uns ist er immer unsterblich. Und nun auch für das Internet, das nie vergisst.

Er war ein tollkühner Bergsteiger, ein leidenschaftlicher Sportler, ein lustiger und draufgängerischer Kerl. Und er war mein Vater.

bmp065… Dieses ❤ ist für all die starken Frauen in meiner Familie!

15 Kommentare zu “Gedanken um einen Gastbeitrag…

  1. „der Club der toten Väter“, du sprichst mir aus der Seele. Betrogen ist eine gute Umschreibung für einige Gefühle, die man mit der Zeit fühlt oder eben nicht fühlt. Vielen Dank sowas lesen zu dürfen.

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  2. über soviel Offenheit…..und dass du in der Lage bist, deine tiefen Gefühle so in Worte zu verpacken, macht mich sprachlos…

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  3. da bleiben mir nur noch tränen. Unbekannterweise gedrückt. Und ja, er wäre bestimmt stolz auf dich. denn wenn du so ein warmherziger mensch bist, wie du zu schreiben vermagst, kann man nur stolz auf dich sein.

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