Der große Tag

Am vergangenen Samstag hatte unser Erstgeborener Jugendweihe. Dieses Fest geht auf die Freidenkergemeinde zurück und stellt ein nichtchristliches Pendant zur Konfirmation dar. Ein Initiationsritual, um den jungen Menschen im Kreis der Erwachsenen willkommen zu heißen.

Als DDR-Kind kam man gar nicht um dieses „Event“ drum herum, wurde es nur allzu gern instrumentalisiert, um die gewünschte Ideologie und den marxistisch-leninistischen Klassenkampfgedanken und die zweifelsohne bewiesene vorherrschende Überlegenheit des Sozialismus durch Veranstaltungen in den Köpfen und Herzen der Jugendlichen auf ewig einzupflanzen.

Hat nicht funktioniert. Wir haben alle nur wegen der Geschenke mitgemacht.

Mir gefällt allerdings der Ursprungsgedanke. Und auch heute noch werden im Rahmen dieser Weihe die Jugendlichen mit Veranstaltungen rund ums Erwachsenwerden, Erwachsensein, unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber der Welt und unseren Mitmenschen auf ihren Schritt in die Selbständigkeit vorbereitet. Es ist ein bisschen wie ein erweiterter Ethikunterricht. Nur draußen. Und alles ist freiwillig. Am Ende folgt dann eine festliche Veranstaltung mit kulturellen Beiträgen (meist in einem Theater abgehalten), wo alle Jugendlichen eines Jahrgangs im Beisein ihrer stolzen Verwandten in todschicken Klamotten auf einer Bühne stehen und die Devotionalien des Festtages entgegennehmen (Buch, Gerbera, ein Pamphlet).

Man muss den Dingen
die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann,
alles ist ausgetragen –
und dann geboren…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst
dass dahinter kein Sommer kommen könnte.

Rainer Maria Rilke

Auch heute machen die jungen Leute nur wegen der Geschenke mit.

Also nun der unsrige. Ich war mäßig aufgeregt. Übermäßig. Ansteigend aufgeregt, könnte man sagen. Am Vorabend legte ich schon die Klamotten der Kinder in ordentlichen Häufchen breit und ging in Gedanken alles durch. Kneipe war bestellt, Einladungen waren verschickt. Zwei Varianten, um auch ja die innerfamiliären Animositäten zu beachten! Person A kann nicht im selben Raum wie Person B sein, also kommt Person A zur Feierstunde und Person B zur anschließenden Familienfeier. Oder doch lieber umgekehrt? Das Hotel für die Leute von außerhalb reserviert. Allen erklärt, wann man sich wo trifft. Ich war soweit fertig. Der große Tag konnte kommen.

Er kam. Und ich drehte schon frühmorgens durch. Also so richtig. Nicht das Pipifax-Durchgedrehe, das ich sonst auch täglich veranstalte. Ich schmiss Kleider, Mäntel, Blusen und Schuhe in der Gegend rum. Ich hatte noch immer nichts anzuziehen! Der Beste besah sich mein Treiben mit müden Augen vom Bett aus und sagte den folgenschweren Satz: „Jetzt erst fängst du an, dir Gedanken zu machen, was du anziehst?“. Ich sag euch, der war binnen Minuten hellwach! Ein gnadenloses Donnerwetter brach über ihn herein. In Gestalt seiner hysterischen Zwergenfrau. Ob er überhaupt eine Ahnung hätte, was ich alles in den letzten Tagen und Wochen um die Ohren gehabt hätte wegen diesem Tag. Und ob ihm nicht aufgefallen sei, dass die gemeinsame Behausung bereits seit Wochen einer Edelboutique ähnelte, weil einfach an jeder Tür und an jedem Schrank Unmengen von Kleidern hingen. Und ob er auch nur den Hauch eines Verständnisses dafür aufbringen könnte, dass ich zwar an jedem Abend mit der Gewissheit ins Bett gegangen sei, etwas Passendes zum Anziehen zu haben, aber an jedem verdammten Morgen im todsicheren Bewusstsein erwacht wäre, dass einfach nichts von all dem hier wirklich passend sei! Und wenn ihm sein Leben lieb sei, dann solle er wenigstens einmal so vernünftig sein und die Klappe halten und einfach mal nicht im Weg rumstehen. Das sei schon alles. Mehr würde ich wirklich nicht verlangen! Danke.

Ich bin mit einem sehr klugen Mann verheiratet. Er nahm sich den Hosenscheißer und ging mit den Nachbarsmännern und deren Hosenscheißern einfach runter in den Hof spielen. Den ganzen Tag.

Gegen elf Uhr Mittags hatte ich noch immer nichts zum Anziehen, aber für alle Fälle schon mal Lockenwickler auf dem Kopf. Was das werden sollte, das wusste ich allerdings selbst nicht. Dennoch kam mir das anlassentsprechend vor.

Scheiße, war mir schlecht. Und ich hatte Herzrasen. Ich fühlte mich wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag. Eine vollkommen verrückte, durchgeknallte Braut.

Durchdrehen macht hungrig. Ich erschien in meiner Lockenwicklerpracht auf dem Balkon und bellte „Schatz!“ nach unten. Sechs Augenpaare blickten zu mir hoch (so müssen sich Könige fühlen). Ich erbat, dass einer der Schätze bitte zum Supermarkt flitzen möge um mir eine Tüte Milchreis zu besorgen. Maggifix oder Mondamin, sowas halt. Die Nachbarsmänner boten hilfreich an, mir mit Milchreis auszuhelfen. Also Körnern. Ich atmete, bis ich wieder bei Stimme war und erklärte dann bemüht unhysterisch, dass ich ganz sicher nicht in der Lage sei, dreißig Minuten in einem Topf zu rühren! Und auch sonst eher nicht der natürliche Typ sei. Ich bräuchte E-Stoffe! Stärke. Zucker! Viel. Und pronto!

Der klügste unter den Schätzen stapfte los und legte wortlos nach nur wenigen Minuten eine Tüte E-Stoff-Milchreis in den Flur. Dann ganz schnell wieder die Tür zumachen, vielleicht beißt die Frau sonst in die Hand? Man kann nie wissen…

Nachdem ich mich gestärkt hatte, durften auch die Jungs wieder rein. Ich versprach, mich zu benehmen.

Wenig später- der Bärtige stutze die Wallemähne, die ihm diesen Namen eingebracht hatte- da klingelte es. Der Pizzadienst! Ich informierte den behaarten Mann, dass ein „senior food delivery manager“ unten sei. Mit  Pizza. Der Mann empfahl, dass ich dann doch runtergehen möge um diesem Menschen im Tausch dafür Geld anzubieten (Ich hatte noch immer die Lockenwickler auf dem Kopf!). Ich informierte ihn im Gegenzug darüber, dass ich finden würde, er sei heute so hilfreich wie ein eitriges Gerstenkorn und präsentierte mich danach dem nächsten Mann an diesem Tag mit bunten Plastikwürsten auf dem Kopf.

Nach dieser neuerlichen „shame attack“ erklärte ich der Familie, ich würde das jetzt so lassen mit dem Plastekopf. Fall ich überhaupt mitkäme!

Eine Stunde vor Abmarschzeit zerrte ich die Nähmaschine aus dem Schrank, steckte mit zittrigen Fingern eine Hose ab (von der ich in diesem Moment annahm, dass sie die einzige sei, die ich heute würde tragen können) und würschte den Stoff irgendwie durch die knatternde Maschine. Der Faden riss nicht. Die Beine waren am Ende sogar gleich lang! Das war wirklich nicht zu erwarten gewesen.

Ich hatte was zum Anziehen. Ich ging also mit (Die Lockenwickler blieben zu Hause. Eine Frisur hatte ich trotzdem nicht, nur Haare, aber das war auch keine wirkliche Überraschung.). Die Jungs waren allesamt innerhalb drei Minuten fertig und sahen so… aus, dass ich schon mal probeheulte.

Programm zur Jugendweihe

Programm zur Jugendweihe

Im Theater ging es dann weiter. Eine Schauspielerin eröffnete mit Hilde Kneefs „Für mich solls rote Rosen regnen“ und ich heulte ab dem ersten „mich“. Als mein Kind auf die Bühne gerufen wurde, brachen alle Dämme. Wie er dort stand. So erwachsen, so ernst, so groß, so klein. Mein Junge.

Loslassen, ein Wort, das schwer zu fassen,
manchmal möchte ich es hassen,
trennt es doch was einst verbunden,
es entstehen tiefe Wunden.
Ich will es lernen, tut es auch weh,
und bin ich bereit, ich schließlich seh´,
daß alles im beständigen Fluß.
Loslassen ist leider ein Muß.

Irmgard Adomeit

Der Kindsvater lachte mich aus und machte Fotos von meinem verheulten Gesicht. Ich hielt mich an meinem Baby fest und ignorierte den emotional unterentwickelten Mann.

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Dann schnell Fotos machen. Du mit dem und jetzt noch mal andersherum. Nun alle bitte vor dem Springbrunnen. Halt! So nicht, bitte so. Es dauerte. Draußen lief mir bereits die Mailbox vom Handy über, weil alle, die wir irgendwie unterwegs auf dem Weg zum Restaurant treffen sollten, mich bereits darüber informierten, dass: Es zu kalt sei/ Man schon ewig warten würde/ Man jetzt alleine losginge und: Wo wir denn verdammt noch mal blieben?!

So kamen wir zu unserem eigenen Fest als letzte im Restaurant an. Alle hatten sich irgendwie platziert, Kaffee geordert und feierten schon mal los. Es gab auch keine vier zusammenhängenden Plätze mehr für uns. Man saß ja schon! Und was mer ham, das hammer. Bevor wir uns dann zu viert auf einen Eckplatz quetschten, traf aber noch eine befreundete Familie ein und ich gab die nonchalante Gastgeberin. Stellte die Freunde unseren Verwandten vor und erklärte meinen Freunden, das da vor ihnen seien quasi unsere Verwandten. Also bis auf die Familie Schiemann dort drüben, mit der wären wir nicht verwandt. Nur befreundet.

Ganz großartig…

Als ich mit einer halben Arschbacke auf dem Eckplatz verkantet war, sah ich, dass nun alle Torte schaufelten und murmelten und das gefiel mir aber auch nicht! Das war nicht festlich genug. Igerndwer müsste was sagen. Ich rungste und schubste also „Irgendwer“ zu meiner linken Seite an und besprach ihn ohne Unterlass, dass er gefälligst aufstehen und was Feierliches sagen solle!

Und der Mann hat wirklich eine leidenschaftliche Rede gehalten. Das ist nicht zu leugnen. Zuerst stellte er sich allerdings irgendwo unsichtbar an den Rand und murmelte etwas von „Tag“ und „Appetit“, was meine innere Autovervollständigung zu „Guten Tag und guten Appetit!“ auffüllte, aber dann! Mit funkensprühendem Blick schmiss er seinen Körper auf unseren Eckplatz und mit ungeahnter Leidenschaft hielt er eine Rede. An mich gerichtet. Ob ich jetzt zufrieden sei, dass er sich mal wieder zum Horst für mich gemacht hätte und dass ihm mein überkandideltes Anspruchsempfinden sowas von auf den Sack gänge! Wenn ich mich nicht sofort runterfahren würde, dann könne er heute für rein gar nichts mehr garantieren! Er habe seine letzten Haare verloren. Und die letzten Nerven, auf die ich ihm noch hätte gehen können. Es reiche!

Was für ein Temperament! Mir war ganz wuschig ❤

Leider platzierte er mich darauf ans andere Ende der Tafel, weil er sich von mir ausruhen musste. Dort saß ich dann auch den Rest des Tages und versuchte, mich dem Anlass entsprechend zu verhalten. Von dort hinten konnte ich allerdings auch nicht verhindern, dass Vater und Sohn unter großem Gejohle ihr erstes gemeinsames Bier zusammen leerten!

Nein, es war wirklich schön.

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Tags darauf nahm der Junge, der jetzt ein junger Mann ist, meine Hand und erklärte, mit dem Fotobuch und der Feier hätten wir ihm das schönste Geschenk von allen bereitet. Das aus dem Mund eines Menschen zu hören, der niemals in der Lage wäre, etwas aus bloßem Kalkül zu sagen, hat mich sehr ergriffen.

Gestern waren wir in der Stadt. Und haben uns einen Maple Macchiato geteilt. Der junge Mann und ich.

Mit der Zeit lernst Du,

dass eine Hand halten nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln.
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit.
Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen.
Und Du beginnst,
Deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind.
Und Du lernst,
all Deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen
ein zu unsicherer Boden ist.
Mit der Zeit erkennst Du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn Du zuviel davon abbekommst.
Also bestell Deinen Garten
und schmücke selbst
Dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere Dir Kränze flechten.
Und bedenke,
dass Du wirklich standhalten kannst …
und wirklich stark bist.
Und dass Du Deinen eigenen Wert hast.

Kelly Priest

20 Kommentare zu “Der große Tag

  1. Man Rike! Jetzt heule ich – erst Lachtränen und jetzt vor Rührung… So schön!
    Allerdings wird mir gerade schmerzlich bewusst, dass mein Baby bei der Jugendweihe der großen schön 9 ist. An der festhalten kann ich mich dann wohl eher nicht mehr – wuuaaaah!

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  2. Ich heule auch! *schnief* Gerührt, berührt und vor lachen! 😊

    Und sag nur 4 Buchstaben : Y.O.G.A. !!! 🙏

    Schön dich heute kennengelernt zu haben! *strahl* Das wiederholen wir dann hoffentlich bald! 😊

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  3. Liebe Henrike, ich freu mich für euch, dass ihr den „großen Tag“ doch so schön und rührend hinbekommen habt und ich war sehr erstaunt, so einen überhaupt nicht aufgeregten jungen Mann wenige Stunden vorher auf meinem Friseurstuhl vorzufinden…
    Und ich bin froh, dass du dich für die „richtige“ Kleidung entschieden hast, es steht dir gut….deine Zitate haben mich zu Tränen gerührt, da der Abschied von meiner Tochter schon langsam beginnt…nämlich mit den Tagen,an denen sie bei ihrem Papa ist. Aber vielleicht fällt mir dann das Loslassen später nicht mehr so schwer..schnief:(
    Liebe Grüße von deiner Yvette

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  4. Als bisher am Thema Jugendweihe völlig unbeteiligte Person danke ich ganz herzlich für diesen grandiosen Einblick!
    Ich musste ganz schön lachen, weil die Lockenwickler-Panik-Attacke mich an den Morgen der Kommunion unserer Nummer 1 erinnerte – da bin ich ähnlich mit Herzrasen rumgehopst – und war am Ende so gerührt und stolz 🙂
    Danke für’s Teilen Eures beeindruckenden und bewegenden Tages!
    …oh und Du siehst toll aus, wie Du Dich an Dein Baby klammerst und gerührt bist!

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  5. Hach ja, dieses Thema, also dieser Tag ist noch so unglaublich weit weg… in Jahren und und Gedanken. Aber ich habe trotzdem schon mal mitgelitten und mitgeheult… 😢

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  6. Hab auch geheult!

    Ebenso bei: Kinderaufführungen jeglicher Art, Geburt und Kaiserschnitt im TV, Heiratsanträgen, Gerhard Schöne, Reinhard Lakomy, neuerdings bei einem Lied von Volker Rosin… normal ist das nicht.

    Danke für den wunderbaren Text!

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  7. Haaaaachhhhh, wenn ich da an meine Jugendweihe denke….die mit einer der letzten war damals, kurz nach der Wende….Scheeeee hast du es geschrieben, habe richtig mit Dir mitgefeiert (nur, dass ich so wuschig auf der Einschulung meiner großen Motte war) und mitgeheult.

    Deinen GG bewundere ich – genauso wie meinen – die können sich wohl die Hand geben, machen alles mit, aber an irgendeinem Punkt reden sie auch mal Tacheles. So muss dat sein!

    Danke für das tolle Event, was Du mit uns geteilt hast!

    LG Ivi

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  8. Pingback: Mein erstes Fotobuch (sponsored post) | Nieselpriem

  9. Was für ein toll geschriebener Beitrag!
    Ich bin auch zu Tränen gerührt! Bei uns steht das Ereignis in drei Wochen an und ich kann jetzt schon keine Nacht mehr ruhig schlafen.

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